Wie die Pandemie unser Berührungsverhalten verändert

6 Juli 2021

Die Auswirkungen der sozialen Distanzierung auf zwischenmenschliche Interaktionen sowie auf unseren Tastsinn standen im Mittelpunkt der 4. interdisziplinären Online-Konferenz Social BRIDGES am 29. Juni 2021. Die Konferenz wurde vom Institut für Psychologie an der Universität der Bundeswehr München in Zusammenarbeit mit der internationalen Assoziation für Forschung der affektiven Berührung IASAT veranstaltet.

Seit über einem Jahr gilt das Händeschütteln als eine eher unangebrachte Begrüßungsart, bei Umarmungen gibt es Bedenken, ein Küsschen auf die Wange darf nicht mehr allen Freundinnen und Freunden gegeben werden, und das Anfassen von Oberflächen und Gegenständen in öffentlichen Räumen ist am besten zu vermeiden. Der Alltag mit den Infektionsschutzmaßnahmen in Zeiten von Corona hat den Menschen bewusstgemacht, wie viel Berührung für sie bedeutet und zu welchen Folgen Berührungsmangel führen kann. Auf Initiative von Prof. Merle Fairhurst, die seit Beginn der COVID-19-Pandemie die Auswirkungen des Lockdowns auf das Wohlbefinden im Rahmen einer fortlaufenden internationalen Studie erforscht, wurde die 4. Tagung der Online-Reihe Social BRIDGES zum Thema „Soziale Distanzierung und Berührung“ ins Leben gerufen. In anregenden Diskussionen präsentierten internationale Expertinnen und Experten aus 12 Forschungsinstitutionen ihre Beobachtungen zu den pandemiebedingten Veränderungen, die das Kommunikationsverhalten und die Weltwahrnehmung beeinflusst haben.

Berührungsverhalten weist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin

Die Berührung ist eine wortlose Kommunikationsart, die Menschen instinktiv beherrschen und bereits vor dem Erlernen der Sprache anwenden, so die Mitorganisatorin der Veranstaltung Prof. Rochelle Ackerley (Universität Aix-Marseille) in ihrem Eröffnungsvortrag. Der Tastsinn spielt eine grundlegende Rolle in den Interaktionen mit anderen Menschen und mit der Umwelt; die Infektionsschutzmaßnahmen haben diese beiden Anwendungsbereiche betroffen und somit auch das alltägliche Berührungsverhalten erheblich verändert.

In der eingehenden Beschäftigung mit dem Thema Körperkontakt entdeckten Vortragende aus unterschiedlichen Forschungsbereichen neue Blickwinkel auf den Verlauf der Corona-Krise innerhalb einer Gesellschaft sowie auch in der weltweiten Perspektive. So untersuchte Sozial- und Kulturwissenschaftlerin Isobel Sigley von der Loughborough University den Grad an pandemiebedingtem Berührungsmangel bei unterschiedlichen Gruppen als einen Indikator für bestehende soziale Ungleichheiten, die auf Herkunft, Gender oder Klasse basieren. In einer internationalen Studie, an der sich 9.000 Teilnehmende aus 41 Ländern beteiligten, haben Prof. Ilona Croy (Friedrich-Schiller-Universität Jena) und Dr. Agnieszka Sorokowska (Universität Wroclaw) ein direktes Verhältnis zwischen interkulturellen Unterschieden im Berührungsverhalten zu Unbekannten und der Schnelligkeit der Verbreitung von COVID-19 in verschiedenen Ländern festgestellt. Doch trotz der Verschiedenheiten sind Menschen weltweit mit ähnlichen problematischen Entwicklungen konfrontiert: Laut den Studienergebnissen von Yasemin Abra (Universität der Bundeswehr München) zeigten Menschen in Deutschland sowie in Großbritannien seit dem Anfang der Pandemie gleichmäßig wachsende Berührungsängste, auch wenn der geschätzte Abstand zu Unbekannten (der als besorgniserregend galt) in Deutschland geringer war.

Die Lösungen liegen auf der Hand

Die pandemiebedingte Berührungsangst und Einschränkungen von Körperkontakten beeinflussen das körperliche sowie das mentale Wohlbefinden der Menschen weltweit, bestätigten mehrere internationale Forscherinnen und Forscher. Langanhaltender Berührungsmangel kann die Entwicklung von Kindern sowie das Verhalten und die Gesundheit von Erwachsenen beeinträchtigen, so Prof. Francis McGlone von der Liverpool John Moores University. Prof. Merle Fairhurst stellte fest, dass, auch wenn eine Person in der Isolation nicht alleine ist, eine Möglichkeit bestehen bleibt, dass sie die spezifische, von ihr benötigte Art der Berührung nicht bekommen kann, und deswegen einen Berührungsmangel mitsamt seinen negativen psychischen und körperlichen Folgen verspürt. Einen Selbsthilfe-Lösungsvorschlag für die berührungslose Corona-Krisenzeit sowie für unsere zunehmend berührungslose Gesellschaft im Allgemeinen, der neue Technologien miteinbezieht, präsentierte Ali Najm von der Technischen Universität Zypern. Die interaktive Smartphone-App „HandsOn“, entwickelt in Zusammenarbeit mit Prof. Merle Fairhurst, verhilft durch informative und unterhaltsame Kurzvideos, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen sowie eine Tagebuchfunktion dazu, eigenes Berührungsverhalten bewusst wahrzunehmen und dieses zur Verbesserung des Wohlbefindens gezielt einzusetzen. „Die App bietet den Nutzerinnen und Nutzern Möglichkeiten zur Selbstreflexion und Stressbekämpfung und birgt gleichzeitig ein großes Potential als ein mögliches Hilfsmittel bei der Erforschung von neurophysiologischen Störungen“, resümierte Najm. Die ersten Forschungsprojekte zur Untersuchung der Körperbildstörungen wie Anorexie oder Bulimie und des Berührungsverhaltens von Jugendlichen werden aktuell von Studierenden des Master-Studiengangs „Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psychologie und Psychotherapie“ an der Universität der Bundeswehr München durchgeführt.

Screenshots aus der App "HandsOn"

Einblick in die App „HandsOn“

Jede aufschlussreiche Diskussion endet mit einigen noch zu erforschenden Fragen. Das gilt auch für die vierte Tagung der Reihe Social BRIDGES. Das Zusammenwirken unterschiedlicher Berührungstypen sowie die Messinstrumente zur Erforschung der Berührung bilden aktuell besonders bemerkenswerte offene Themen, resümiert Prof. Fairhurst im Rückblick.


Einen Überblick über die Veranstaltungsreihe Social BRIDGES sowie über die Inhalte der vergangenen Tagungen erhalten Sie hier.

Was verschiedene Arten von Berührung für uns bedeuten und wie der Berührungsmangel in der COVID-19-Pandemie auf unser Wohlbefinden auswirkt, erzählt Prof. Fairhurst auch in der Sendung Campus Talks auf ARD-alpha.

Das Entwicklerteam der Smartphone-App „HandsOn“ lädt neue Nutzerinnen und Nutzer ein, die App auszuprobieren und sich durch Feedback an ihrer Verbesserung zu beteiligen.


Titelbild: © gettyimages / fizkes