Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Entwicklungsländer

1 Juli 2020

Aufgrund der Pandemie wurden auch in Afrika, Asien und Lateinamerika viele Schulen und Universitäten geschlossen. Dies belastet die Bildungssysteme in Entwicklungsländern zusätzlich, von denen auch vor COVID-19 schon viele Schwierigkeiten hatten, qualitativ hochwertige Bildung für alle anzubieten.

Ein Kommentar von Prof. Gertrud Buchenrieder, Professorin für Entwicklungsökonomie und -politik

Das vorrangige Ziel des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) ist es, die nachhaltige menschliche Entwicklung global voranzutreiben. Seit dem Jahr 2015 ist das Synonym dafür die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen. Die Agenda 2030 berücksichtigt erstmals alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Soziales, Umwelt und Wirtschaft. Diese drei Nachhaltigkeitsdimensionen werden indirekt bereits seit 1990 durch den Index der menschlichen Entwicklung von der UNDP dokumentiert. Der Index listet alle Länder weltweit nach einem Kombinationswert aus der Lebenserwartung bei der Geburt, dem Bildungsniveau und dem durchschnittlichem Pro-Kopf-Einkommen auf. Der Faktor Lebenserwartung gilt u. a. als Indikator für Gesundheitsfürsorge und Hygiene. Das Bildungsniveau steht für erworbene Kenntnisse und die Möglichkeit am öffentlichen und politischen Leben teilzuhaben, aber auch für potentiellen Einkommenserwerb. Das Pro-Kopf-Einkommen zeigt den Lebensstandard auf.

Ein Mensch gilt als extrem arm, wenn er nicht in der Lage ist, sich in seinem Heimatland täglich die Menge an Gütern zu kaufen, die in den USA 1,90 US-Dollar kosten würden. Der Index der menschlichen Entwicklung rangiert zwischen 0 und 1; Deutschland belegte mit 0,939 im Jahr 2019 Platz 4 hinter Norwegen, der Schweiz und Irland. Oberhalb eines Indexwerts von 0,699 sprechen wir von hoher bis sehr hoher menschlicher Entwicklung. Niger in Afrika belegt den letzten Platz mit 0,377 von 189 Ländern weltweit. Knapp 50 Prozent der Menschen in Niger gelten als extrem arm, gemessen am verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen von 1,90 US-Dollar pro Tag.

Eine hitzesuchende Rakete

Trotz der knappen öffentlichen Ressourcen haben die meisten Entwicklungsländer bereits früh Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen. Für viele Entwicklungsländer ist die COVID-19-Pandemie nicht die erste Gesundheitskrise. Hier halfen zum Teil die Erfahrungen mit Epidemien wie Ebola oder SARS (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom). Eine Verbreitung von COVID-19 wird aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen in Entwicklungsländern aber nicht aufzuhalten sein. Dabei darf man sich nicht davon täuschen lassen, dass Ende April 2020 anscheinend nur fünf Hocheinkommensländer, die USA, Italien, das Vereinigte Königreich, Spanien und Frankreich 70 Prozent aller Todesfälle aufgrund von COVID-19 Infektionen schultern mussten. Tatsächlich gehen Philip Schellekens und Diego Sourrouille in einem Arbeitspapier der Weltbank davon aus, dass die statistische Verteilung der Todesfälle aufgrund von COVID-19 Infektionen etwa 30:70 ist, 30 Prozent in Hocheinkommensländern und 70 Prozent in Entwicklungsländern Da es an COVID-19-Tests in Entwicklungsländern mangelt, ist es naheliegend, dass die Infektionszahl weit höher ist, als es die offiziellen Zahlen nahelegen.

COVID-19 wurde teilweise als hitzesuchende Rakete  beschrieben, die auf die Schwächsten der Gesellschaft zusteuert. Diese Metapher gilt nicht nur für die Schwachen in der reichen Welt; die Schwachen im Rest der Welt sind nicht immuner. Sie sind vielleicht sogar leichtere Ziele, weil sie noch ärmer und exponierter sind und ein geschwächtes Immunsystem durch Malaria, Tuberkulose, HIV und Unterernährung haben. Mit den Einschränkungen im internationalen Reiseverkehr wurde für Entwicklungsländer auch der Zugang zu dringend benötigten Medikamenten und Medizinern immer schwieriger. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass es in den Entwicklungsländern zu ungleich massiveren negativen sozioökonomischen Auswirkungen kommen wird als im Globalen Norden

Die Weltbank fürchtet in ihrem neuen Bericht über globale Wirtschaftsperspektiven, dass die Rezession im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie alle Fortschritte der Entwicklungsländer zunichtemacht und sie in ihrer Entwicklung um Jahre zurück wirft. Dies gilt aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur für die wirtschaftlichen Erfolge, die sich in einem höheren durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen ausdrücken, sondern auch für die Lebenserwartung und das Bildungsniveau. Mangelnde Möglichkeiten die Hygienerichtlinien einzuhalten sowie teilweise marode öffentliche Gesundheitssysteme, erhöhen das Risiko, sich in Entwicklungsländern zu infizieren und bei Erkrankung nicht behandelt werden zu können. Eine aufwändige Behandlung im Krankenhaus können sich ohnehin nur die Wohlhabenden leisten, denn der Großteil der Bevölkerung in Entwicklungsländer hat keine Krankenversicherung und kaum Rücklagen.

Bildung: Voraussetzung für ein besseres Leben

Aufgrund der Pandemie wurden auch in Afrika, Asien und Lateinamerika Schulen und Universitäten geschlossen. Dies belastet die Bildungssysteme in Entwicklungsländern zusätzlich, von denen auch vor COVID-19 schon viele Schwierigkeiten hatten, qualitativ hochwertige Bildung für alle anzubieten. Digitale Angebote an Schulen und Universitäten sind kaum eine Option, da die Schüler/-Innen und Studierenden nicht über die notwendigen Endgeräte verfügen. Aber gerade arme Familien unternehmen außerordentliche Anstrengungen, um ihren Kindern Bildung zu ermöglichen. Bildung wird als Voraussetzung für ein besseres Leben angesehen. Menschen in Entwicklungsländern geben durchschnittlich 38 Prozent ihres knappen Einkommens für Bildung aus, gegenüber 19 Prozent in Ländern mit hohem Einkommen. Wenn aber Kinder in Entwicklungsländern nicht mehr in die Schule können, wird ihnen kurzfristig ein sicherer Ort und oft auch die einzige warme Mahlzeit pro Tag entzogen. Längerfristig können die schulischen Einschränkungen sogar die Möglichkeiten der Kinder reduzieren, einen höheren Lebensstandard zu erreichen.

Globale Rezession verstärkt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den Entwicklungsländern

Auch in den Entwicklungsländern wurde teilweise mit Ausgangssperren und Distanzgeboten auf die COVID-19-Pandemie reagiert. Angesichts der Lebensrealitäten in Entwicklungsländern sind diese Maßnahmen jedoch kaum umzusetzen. In Ländern, in denen es kaum reguläre Arbeitsverträge gibt, können Menschen ihrem Job nicht fernbleiben. Wer nicht am Arbeitsplatz erscheint, erhält keinen Lohn und kann seine Familie bald schon nicht mehr ernähren. Und während es schwieriger wird, Geld zu verdienen, steigen die Preise – ein oft beobachtetes Phänomen in Krisenzeiten. Manch eine Regierung, z. B. in Kenia, bietet ihren Bürgern Steuererleichterungen an - aber viele zahlen eben keine Steuern, weil sie kaum etwas verdienen. Der Ausbruch der globalen Wirtschaftskrise verstärkt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Entwicklungsländer noch. Wertschöpfungsketten brechen zusammen, ölexportierende Länder wie Nigeria verlieren massiv an Einnahmen aufgrund des gesunkenen Ölpreises, Investitionen aus reicheren Ländern werden zurückgefahren oder abgezogen, Auswanderer schicken weniger Geld in ihre Herkunftsländer, um ihre Familien zu unterstützen, Touristen bleiben aus und die Staaten selbst können aufgrund ihrer klammen öffentlichen Haushalte wenig Mittel für Konjunkturprogramme aufbringen. In ärmeren Ländern führt der Wirtschaftsschock im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie deshalb ungleich stärker dazu, dass Familien vor dem tragischen Dilemma stehen, zwischen Schule oder Arbeit, Gesundheitsversorgung und sogar Nahrung für die Familie wählen zu müssen. Der südafrikanische Ökonom Seán Mfundza Muller meint dazu: "Nicht nur das Virus, auch die Armut tötet Menschen."

Uns selbst zu schützen ist dasselbe wie andere zu schützen

Alles deutet darauf hin, dass die globale Rezession aufgrund der aktuellen COVID-19-Pandemie die bestehenden sozioökonomischen Ungleichheiten weltweit verstärken wird. Während die reicheren Länder bereits dabei sind, die Folgen zu überwinden, geht die Weltbank in ihrem neuen Bericht über globale Wirtschaftsperspektiven davon aus, dass die Pandemie-bedingte Wirtschaftskrise in vielen ärmeren Ländern zu einer Rezession führen wird, der eine Phase von Stagnation oder eine Phase mit nur sehr geringem Wachstum folgen wird. Dies dürfte vor allem die Entwicklungsländer wirtschaftlich um Jahre zurückwerfen. Erfolge in reicheren Ländern werden aber nicht lange anhalten, wenn sich die COVID-19-Pandemie anderswo verheerend ausbreitet. Ein Impfstoff wäre wohl die Lösung. Er würde der Pandemie ihren Schrecken nehmen, bei der es laut Johns-Hopkins-Universität bisher etwa 502.000 Tote und mehr als 10,1 Millionen Infizierte gab (Stand 29.06.2020). Dies sieht auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) so. In ihrer Videobotschaft zum gerade beendeten internationalen Spendenmarathon im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie, bei dem die internationalen Hilfszusagen für Impfstoffe und Behandlungen auf insgesamt 15,9 Milliarden Euro aufwuchsen, sagte sie: "Ich bin der festen Überzeugung: Impfstoffe, Tests und Medikamente müssen weltweit verfügbar, bezahlbar und zugänglich sein". Die COVID-19-Pandemie lehrt uns eine ungewöhnliche Lektion: Uns selbst zu schützen ist dasselbe wie andere zu schützen. Meistern können wir diese weltweite Gesundheits-, soziale und wirtschaftliche Krise nur, indem wir global zusammenarbeiten und füreinander da sind.


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