Kommentar: Die gesellschaftliche Dimension der Krise
15 April 2020
Menschenleben und die Wirtschaft sind in Gefahr. Und wie steht es um die gesellschaftliche Dimension der Corona-Pandemie?
Ein Kommentar von Prof. Teresa Koloma Beck, Professur für Soziologie der Globalisierung
Zwei Aspekte stehen im Zentrum der gegenwärtigen Bemühungen zur Eindämmung der COVID19-Pandemie: die Rettung von Menschenleben einerseits und die Verhinderung eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs andererseits. Bislang systematisch kaum adressiert, wird die gesellschaftliche Dimension der Krise. Ihre Ausleuchtung und Reflexion findet auf den Feuilleton- und Panorama-Seiten der großen Tages- und Wochenzeitungen statt, nicht im Politikteil. Doch das ist kurzsichtig. Denn sowohl die Wirtschaft als auch demokratische Politik sind an soziale und gesellschaftliche Bedingungen gebunden, die sie selbst nicht herstellen können.
Einige dieser Bedingungen werden in anderen gesellschaftlichen Bereichen erzeugt (z. B. Wissen oder Erziehung), andere sind historisch gewachsen (z. B. Kultur oder Mentalität). Die zur Pandemiebekämpfung notwendigen Maßnahmen physischer Distanzierung greifen diese Basis an, da vertraute Formen sozialen Miteinanders plötzlich in Frage stehen. Wo sich eine Infektionskrankheit rasch ausbreitet, werden aus Mitmenschen Risikofaktoren. Und wo eine solche Situation länger andauert, verändert sich soziales Leben grundsätzlich. Die zur Eindämmung der Pandemie notwendigen Maßnahmen stellen also nicht nur ein ökonomisches Problem dar; sie drohen die Basis gesellschaftlichen Miteinanders zu erodieren. Doch muss es dazu nicht kommen. Die Adressierung der gesellschaftlichen Herausforderungen ist – ebenso wie die der ökonomischen – vor allem eine Gestaltungsaufgabe. Darauf hat nachdrücklich auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in ihrer Stellungnahme hingewiesen.
Auch wenn die jetzigen einschneidenden Maßnahmen dazu führen, den Verlauf der Infektionskurve abzuflachen, ist mit einem baldigen Ende der Pandemie nicht zu rechnen. Angesichts dessen gilt es, nach Wegen zu suchen, unter Berücksichtigung von Distanzgeboten und Schutzmaßnahmen nicht nur das wirtschaftliche sondern auch das öffentliche Leben vorsichtig wieder in Gang zu bringen. Das heißt keineswegs "Rückkehr zur Normalität", sondern Gestaltung eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses, in dem sich die Vorstellungen von der Normalität selbst verändern werden.
Zur Person:
Prof. Teresa Koloma Beck studierte an der I.E.P. Paris und an der Universität Witten/Herdecke. Im Jahr 2010 schloss sie an der Humboldt-Universität, Berlin ihre Promotion über Veralltäglichungsprozesse im Bürgerkrieg ab. Der Schwerpunkt ihrer akademischen Arbeit liegt in der alltagssoziologischen Erforschung von Gewaltkonflikten und Globalisierungsdynamiken. Bevor sie 2017 an die Universität der Bundeswehr München kam, leitete sie am Centre Marc Bloch in Berlin die deutsch-französische Nachwuchsgruppe »Espaces et Violences | Gewalträume« (2013-2016). Zuvor arbeitete sie als Professurvertreterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen internationalen und interdisziplinären Lehr- und Forschungskontexten, u. a. an der Universität Erfurt, der Universität Marburg und der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschung zu Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften führte sie für ethnographische Forschungsaufenthalte nach Angola (2005/06), Mosambik (2010) und Afghanistan (2015). Im Jahr 2016 wurde sie für diese Arbeiten mit dem Thomas-A.-Herz-Preis für qualitative Sozialforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) ausgezeichnet.
Weitere Informationen zur Professur: https://www.unibw.de/soziologie/professur-fuer-soziologie-der-globalisierung-1
Titelbild: © iStockphoto / alvarez