Föderalismus in Zeiten der Pandemie. Ein Beitrag von Prof. Ursula Münch

17 April 2020

Sind bundesweit einheitliche Maßnahmen und Stimmen sinnvoll und möglich? Und auf welchen Gebieten kann die Vielstimmigkeit des Föderalismus ein Vorteil sein?

Ein Beitrag von Prof. Ursula Münch, Professorin für Politikwissenschaft an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften (derzeit beurlaubt); Direktorin der Akademie für Politische Bildung, Tutzing

Zu den vielen Sätzen, die während der Pandemie gern ein ums andere Mal wiederholt werden, gehört die Feststellung, dass in der Krise die Stunde der Exekutive schlägt. Parlamente und Parlamentarier leiden im Zeitalter von Personalisierung, Beschleunigung, Dominanz von Bildern sowie der Gesetzmäßigkeiten der Europäischen Integration grundsätzlich unter Bedeutungsverlust. Für Krisenzeiten gilt dies noch viel mehr: Gefragt sind exekutive Schnelligkeit und nicht zeitraubende Reflexion. Gefolgt wird Führungspersönlichkeiten und nicht Gremien. Gewartet wird auf die Bekanntgabe von Regierungsentscheidungen und nicht auf die Stellungnahmen der parlamentarischen Opposition.

Freiheitsrechte unter Druck …

Diese mit Blick auf unsere Freiheitsrechte durchaus beunruhigenden Gesetzmäßigkeiten der Pandemie lassen sich auch für andere rechtsstaatliche Demokratien beobachten. Sie rufen in Erinnerung, dass die Gewaltenteilung – richtig wäre es von Gewaltenhemmung zu sprechen – keineswegs nur auf der so genannten „horizontalen Ebene“ also vor allem zwischen Regierung, Parlament und Gerichten verläuft. Tatsächlich sind, natürlich aufgrund unserer historischen Erfahrung mit dem Machtmissbrauch während der NS-Zeit, im bundesdeutschen politischen System ungewöhnlich viele Formen der Gewaltenkontrolle verankert. Neben der besonders wichtigen Kontrolle durch die herkömmlichen und die digitalen Medien sowie die Vielzahl der am Willensbildungsprozess beteiligten Gruppen, ist hier vor allem der föderale Staatsaufbau zu nennen.

… und der Föderalismus gleich mit

In der Anfangsphase der deutschen Reaktion auf das Coronavirus kam bei der Beschreibung der Entscheidungsabläufe in Bund und Ländern kaum ein Journalist oder Moderatorin ohne die Worte „Flickenteppich“ und „vorgeprescht“ aus. Das wird in der anstehenden nächsten Phase, wenn es darum geht, wie der Ausstieg aus dem „shut-down“ im Einzelnen ausgestaltet werden sollte, noch mehr der Fall sein. Nicht nur Wirtschaftsunternehmen und Verbände mahnen „nationale Koordination“ an. Und tatsächlich: Die Pandemie legte und legt schonungslos offen, auf welchen Gebieten die Koordination im Bundesstaat nur mangelhaft funktioniert. Dass zum Beispiel der Bundesgesundheitsminister gemäß dem Infektionsschutzgesetz Maßnahmen lediglich empfehlen, aber nicht anordnen kann, entspricht zwar dem tradierten deutschen Modell von Bundesstaatlichkeit, bei dem der Zentralstaat die meisten Gesetze erlässt und die Gliedstaaten für deren Vollzug zuständig ist. Unter den Bedingungen einer Epidemie scheint diese Aufgabenverteilung, die mit einem hohen Koordinationsbedarf einhergeht, aber ineffizient und womöglich sogar lebensgefährlich.

Die Schweiz als bundesstaatliches Gegenbeispiel

Ausgerechnet die Schweiz, wo der Föderalismus nicht nur im verfassungspolitischen Denken präsent ist, sondern den Bürgern sogar am Herzen liegt, geht anders vor und könnte womöglich – das wird jedoch erst nach der akuten Krise zu beurteilen sein – Vorbild für die Bundesrepublik sein. Für den Fall, dass sich eine epidemiologische Notlage zur nationalen Bedrohungslage entwickelt, reagiert der Schweizer Staat auf das exponentielle Wachstum der Ansteckungszahlen und eskaliert quasi parallel die Durchgriffsrechte des Zentralstaates. Besteht in einer „normalen Lage“ wie auch in der „besonderen Lage“ die grundsätzliche Zuständigkeit der Kantone, so hat der Zentralstaat in der letzten von drei Eskalationsstufen, der „ausserordentlichen Lage“, das Recht, kantonale Kompetenzen an sich zu ziehen und gegenüber den Kantonen Maßnahmen anzuordnen.

Wohltuender Wissenschaftsföderalismus

Abgesehen von einer derartigen Änderung der föderalen Aufgabenteilung sind die zentralen Vorteile unserer bundesstaatlichen Organisation jedoch offensichtlich. Der Wettbewerb zwischen den (universitären und außeruniversitären) Wissenschaftseinrichtungen in den verschiedenen deutschen Ländern ist sinnvoll. Er verhindert zum Beispiel, dass ein einmal eingeschlagener Weg sich womöglich zur Sackgasse entwickelt, aus der schon deshalb niemand mehr herausfindet, weil Fehler unerkannt oder zumindest unentlarvt bleiben. Der Vorzug unseres Wissenschaftsföderalismus besteht darin, nicht nur das Robert Koch-Institut auf Bundesebene, sondern breite wissenschaftliche Kompetenz und eine Vielzahl wissenschaftlicher Einrichtungen auf Ebene der Länder zu haben. Diese stehen in einem gewissen Wettbewerb miteinander und gewährleisten, dass die Wissenschaft eben nicht nur mit einer Stimme spricht und die Politik damit zugleich von Kritik abschirmt. Statt einer womöglich gefährlichen Eintönigkeit ergeben sich wichtige Kontroversen, die ggf. auch zur Korrektur und Rücknahme politischer Entscheidungen führen können.

Neues „Narrativ“: Nicht den „Flickenteppich“ schelten, sondern die Gewaltenhemmung schätzen

Zu diesem wissenschaftlichen Pluralismus tritt der Wettbewerb der Regierungschefs um die strategisch richtigen sowie zeitlich passenden Lösungen. Gerade im deutschen Verbundmodell, das sich deutlich vom US-amerikanischen föderalen Trennsystem unterscheidet, schlägt eben nicht die Stunde der einen (zentralstaatlichen) Exekutive, sondern die „Stunde der Exekutiven“ im Bund, den 16 Ländern und durchaus auch in den Kommunen.

Es ist unbestritten: Auf die vielen regionalen Besonderheiten bei der Verbreitung und der Bekämpfung des Virus angemessen unterschiedlich reagieren zu können, bringt zwangsläufig Uneinheitlichkeit im Detail hervor. In Mecklenburg-Vorpommern gelten zum Teil andere Regelungen als in Bayern oder in Baden-Württemberg. Aber dieser mögliche Nachteil birgt einen Vorzug, auf den eine freiheitliche Demokratie in Zeiten von Allgemeinverfügungen auf keinen Fall verzichten kann: Machtkontrolle.


Weitere Informationen zur Akademie für politische Bildung: https://www.apb-tutzing.de


Titelbild: Prof. Ursula Münch (© Akademie für politische Bildung)