Helfer in Gefahr. Ein Beitrag von Prof. Buchenrieder

16 September 2020

Leib und Leben von Mitarbeitern in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit sind zunehmend bedroht. Warum richtet sich Gewalt gegen Helfer?

Ein Beitrag von Prof. Dr. Gertrud Buchenrieder, Professorin für Entwicklungsökonomie und -politik

Fachkräfte in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit retten Leben und leben selbst gefährlich. Durch Naturkatastrophen, Kriege und bewaffnete Konflikte, vor allem in Entwicklungsländern, ist der Bedarf an humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahren stetig gestiegen. Wenn staatliche Strukturen zu schwach sind, man spricht dann auch von fragilen Staaten, um der Bevölkerung Schutz und Hilfe im Falle von Naturkatastrophen zu bieten, führt dies zu einer überproportionalen Zunahme an Todesfällen im Vergleich zu Entwicklungsländern mit stabilen staatlichen Strukturen. Der Militärputsch in Mali vom 18. August in diesem Jahr (der vierte, seit das Land im Jahr 1960 seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangt hatte) ist das neueste Beispiel für diese Entwicklung. Um Blutvergießen zu vermeiden, verkündete der malische Präsident Ibrahim Boubacar Keita seinen Rücktritt, der in den Straßen der Hauptstadt Bamakos durch Tausende Mitglieder der Protestbewegung M5, einem Bündnis aus Zivilgesellschaft, Opposition und religiösen Führern gefeiert wurde. Die Putschisten haben knapp einen Monat später verkündet, für 18 Monate eine Übergangsregierung installieren zu wollen. Sie erklärten bisher jedoch nicht, wer diese Regierung leiten soll.

In Krisenzeiten, tritt an die Stelle der Entwicklungszusammenarbeit i. d. R. die humanitäre Hilfe. Wenn die humanitäre Hilfe ausläuft, beginnt die Entwicklungszusammenarbeit wieder. Letztere soll Menschen in Entwicklungsländern dabei unterstützen, ein Leben in Menschenwürde zu führen, das nachhaltig frei von Mangel und frei von Furcht ist. Seit dem Jahr 2015 ist das Synonym dafür die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen. Die Agenda 2030 berücksichtigt erstmals alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Soziales, inklusive Sicherheit, Umwelt und Wirtschaft. In fragilen Staaten ist eine Verknüpfung von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe geboten, um das Katastrophenrisikomanagement und friedensfördernde Prozesse zu stärken und damit die Resilienz dieser Staaten zu fördern. 

Gefährdete Helfer

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der humanitären Hilfe und in der Entwicklungszusammenarbeit laufen zunehmend Gefahr, bombardiert, ermordet oder entführt zu werden. Diese Gefahr ist in fragilen Staaten und während Zeiten von bewaffneten Konflikten nochmals größer. Während es für sogenannte KIK-Zwischenfälle in der humanitären Hilfe eine internationale Berichterstattung und Datenbasis gibt, das sind Vorfälle, die dazu geführt haben, dass Mitarbeiter in der humanitären Hilfe getötet (killed), verletzt (injured) oder entführt (kidnapped) wurden, sind KIK-Zwischenfälle in der Entwicklungszusammenarbeit nicht systematisch dokumentiert.

Wir wissen aber bereits, dass das Jahr 2019 das bisher gefährlichste Jahr in der Geschichte der humanitären Hilfe war und der negative Trend scheint sich fortzusetzen. Laut dem neuesten „Sicherheitsbericht für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen“ der Gruppe „Humanitarian Outcomes“ wurden im vergangenen Jahr 125 Mitarbeiter getötet, 234 verwundet und 124 entführt. Der Bericht stellt fest, dass Syrien das gefährlichste Land für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen war, da es mit 47 Angriffen die höchste Zahl von Angriffen und mit 36 die höchste Zahl von Todesopfern aufwies. Diese wurden hauptsächlich durch Luftangriffe, Granaten und andere Sprengstoffe verursacht, die im andauernden Bürgerkrieg eingesetzt wurden. Der steilste Anstieg der Angriffe auf humanitäre Helfer fand in der Demokratischen Republik Kongo statt. Der Anstieg von KIK-Zwischenfällen war angetrieben von der Gewalt gegen Gesundheitspersonal, das auf den Ebola-Ausbruch im Nordosten des Landes reagierte. Das Besondere an den Angriffen gegen Gesundheitspersonal in humanitären Kontexten, insbesondere gegen diejenigen, die sich für die Eindämmung tödlicher Krankheiten einsetzen, ist, dass die Angreifer oft sowohl Empfänger von Hilfeleistungen als auch bewaffnete Gruppen sind, hieß es in dem Bericht. Häufig hängen solche auf den ersten Blick nicht nachvollziehbare Reaktionen mit Ängsten und Unverständnis in der Bevölkerung zusammen: Dorthin wo diese tödlichen Krankheiten ausbrechen, dabei ist auch neuerdings Covid-19 zu nennen, werden vermehrt humanitäre Helfer wie beispielsweise Gesundheitspersonal gesendet. Die Bevölkerung assoziiert mit dem Gesundheitspersonal die vermehrte Bedrohung durch die Krankheit und unterscheidet nicht zwischen Kausalität und Korrelation. In anderen Worten, es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen der vermehrten Präsenz von Gesundheitspersonal in Zeiten einer Epidemie aber eine Korrelation, da das Personal normalerweise dorthin geschickt wird, wo die Situation für die Bevölkerung am schlimmsten ist (also eine umgekehrte Kausalität).

Im letzten August-Überblick 2020 von „Insecurity Insight“ werden ähnliche Vorfälle aus vier Entwicklungsländern gemeldet: aus Burkina Faso, Niger, Somalia und dem Irak. Aber auch ein Bericht aus Griechenland ist darunter. Auf der Insel Lesbos griffen migrantenfeindliche Demonstranten eine von „Ärzte ohne Grenzen“ betriebene Klinik außerhalb des Flüchtlingslagers Moria an und setzten sie in Brand. Die Demonstranten bedrohten das Personal und warfen Steine in die Klinik, in der etwa 50 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Frauen und Kinder aus dem Lager Moria behandelten. Glücklicherweise wurde das Personal nicht verletzt. Aktuell ist das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos wieder in den Schlagzeilen. Das dramatisch überfüllte Flüchtlingslager wurde durch mehrere zeitlich versetzte Feuer zerstört und etwa 12 000 Migranten und Migrantinnen quasi über Nacht obdachlos. Die griechische Regierung beschuldigt die Asylsuchenden, den Großbrand im Lager Moria selbst verursacht zu haben. „Das Feuer wurde von Menschen gelegt, die Asyl beantragt haben – als Reaktion auf die wegen des Coronavirus verhängte Quarantäne [in Lager Moria]“, sagte Regierungssprecher Stelios Petsas am 10.09.2020. Diese Quarantäne bzw. die Ausgangssperre hatte zum Zeitpunkt des Brandes bereits um die 150 Tage gedauert. Kurz vor dem Brand waren 35 Asylsuchende im Lager positiv auf das Virus getestet worden, woraufhin sie in eine Isolationszone verbracht werden sollten. Dies hat die Angst der Menschen im Flüchtlingslager vor dem Coronavirus angefacht. Thomas von der Osten-Sacken, der für die Hilfsorganisation „Stand by me Lesvos“ arbeitet, erklärte: Die Corona-Angst „war der Auslöser [für die Brandstiftung] - diese ganzen Tests, die Angst, die Panik der letzten Tage. Und dann gestern der Versuch, Leute in eine Isolationszone zu bringen, war sozusagen der Trigger, der das zum Laufen gebracht hat.“

Die Covid-19-Pandemie hat die Rahmenbedingungen für die humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit offensichtlich zusätzlich verschlechtert. Jan Egeland, der Generalsekretär des norwegischen Flüchtlingsrates, richtete deshalb vor kurzem einen eindringlichen Appell an die Weltgemeinschaft: Diplomaten, Militärs, religiöse und politische Führer müssen mehr tun, um unsere humanitären Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor Ort, besser vor bewaffneter Gewalt zu schützen. Sie dürfen nicht zur Zielscheibe werden.


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