25 Jahre nach Srebrenica. Was die Gewaltforschung heute denkt
14 Juli 2020
Am 11. Juli jährte sich der Beginn des Völkermords in der bosnischen Stadt Srebrenica zum 25. Mal – in der Erforschung von Gewalt hat sich in dieser Zeit ein Perspektivwechsel von Ideologien zu alltäglicheren Erklärungen für Täterschaft ergeben, der Chancen bietet, aber auch die Grenzen der Prävention aufzeigt.
Ein Kommentar von Prof. Timothy Williams, Juniorprofessur für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung
Vor 25 Jahren, im Juli 1995, wurden im bosnischen Srebrenica vor den Augen der internationalen Gemeinschaft Tausende bosniakische Männer von serbischen Einheiten gefangen genommen und massakriert. Die muslimischen Männer wurden von ihren Frauen und Kindern getrennt und in Bussen abgeführt, ohne dass die niederländischen UN-Blauhelme, deren Mandat die Aufrechterhaltung einer UN-Sicherheitszone war, eingriffen. In den nächsten Tagen wurden über 8.000 Bosniaken getötet und in Massengräbern verschüttet. Oft wurden sie mehrfach wieder ausgegraben und umgelegt, um die Spuren der Täter zu vertuschen.
Diese grauenhafte Gewalt ereignete sich im Kontext der Bürgerkriege des zerfallenden Jugoslawiens und wurde damals in den Medien vordergründig als Explosion alten, ethnischen Hasses oder ethnischer Ängste dargestellt. Diese Darstellung legte nahe, dass eine solche Gewalt auf dem Balkan zu erwarten sei oder dass ‚diese Menschen‘ nun mal so seien. Doch die Gewaltforschung zeigt ganz im Gegenteil, dass solche nationalistischen Strömungen nicht naturgegeben sind, sondern politisch nützlich, um in Zeiten des Umbruchs Macht zu erlangen und Unterstützung in der Bevölkerung zu sichern.
Dynamiken innerhalb der Tätergruppe und Opportunismus
Auch auf der Ebene der Täter selbst (und ich spreche hier von Tätern, da die meisten eben auch männlich waren) war dieser Hass nicht ausschlaggebend. Die Forschung zu Tätern im Völkermord in Bosnien malt ein gänzlich anderes Bild, ebenso die Forschung zu Täterschaft im Völkermord 1994 in Ruanda, im Holocaust sowie meine eigene Forschung zu den Roten Khmer, die am Völkermord in Kambodscha Ende der 1970er Jahre beteiligt waren.
Während es einzelne Täter gibt, die von ethnischem Hass oder anderen Ideologien angetrieben werden, sind es viel weniger, als man erwarten würde. Mehr Menschen werden durch deutlich alltäglichere Motivationen zur Beteiligung an der Gewalt bewegt. Obwohl ich in meiner Forschung eine ganze Reihe von Faktoren ausmache, so sind doch zwei Kategorien zentral: Dynamiken innerhalb der Tätergruppe und Opportunismus. Innerhalb der Tätergruppe sind psychologischer Druck und Zwang, den Vorgesetzte ausüben können, entscheidend. Hinzu kommt der eigene Konformitätsdrang mit der Gruppe, die Annahme gewaltsamer Rollenvorstellungen, oder der Wunsch, Status innerhalb der Gruppe zu erlangen. Die Einbindung in die Gruppe erleichtert auch die Beteiligung an Gewalt, da sie die Abgabe von Verantwortung an andere ermöglicht und Menschen anonym agieren lässt. Dagegen versprechen sich von opportunistischen Motivationen angetriebene Täter Vorteile, die sich ganz unterschiedlich ausgestalten können: Bereicherung durch Plünderung der Opfer, Karrierefortschritt, die Möglichkeit zu vergewaltigen, oder die Chance, sich unliebsame Rivalen unter dem Deckmantel des Völkermords zu entledigen.
Gewalt ist auch heute überall denkbar, wo sie politisch nützlich sein kann
Die Zentralität dieser anderen Motivationen bedeutet aber nicht, dass Ideologien an sich unwichtig sind. Auch wenn sie selten die eigentliche Motivation zur Beteiligung an Gewalt darstellen, sind sie doch als Rahmen ganz zentral, der die Gewalt moralisch rechtfertigt und Tätern aufzeigt, warum sie notwendig ist. Nur in diesem Rahmen wird die Beteiligung überhaupt denkbar, auch wenn Menschen erst durch andere Motivationen tatsächlich zu Tätern werden. Trotzdem leuchtet es ein, dass in der Berichterstattung eher der ethnische Hass oder die fanatische Ideologie im Vordergrund stehen. Die Gewalt und die Täter werden so als anders dargestellt und wir können uns sicher wiegen, dass „bei uns“ so etwas nicht (mehr) denkbar ist.
Aber diese Annahme täuscht: Deutschland hat den größten Völkermord der neueren Geschichte durchgeführt, den Holocaust. Auch hat Deutschland den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia, der damaligen Kolonie Deutsches Südwestafrika, durchgeführt, in dem General Lothar von Trothas Vernichtungsbefehl zur Auslöschung großer Teile der Herero und Nama führte. Und Gewalt dieses Ausmaßes wird auch heute überall dort denkbar, wo sie politisch nützlich sein kann. Zwei sehr aktuelle Beispiele findet man bei den Uiguren in China und den Rohingya in Myanmar, die als muslimischen Minderheiten jeweils von den Regierungen China und Myanmar als fremd, unerwünscht und gefährlich porträtiert werden, um zu rechtfertigen, dass sie getötet, in Lagern interniert (Uiguren) oder vertrieben werden (Rohingya). Auch hier sind politischer Nutzen der Gewalt und der ethnische Hass oder andere Ideologien wichtig, um einen Rahmen zur Rechtfertigung der Gewalt zu schaffen. Die individuelle Beteiligung an dieser Gewalt wird allerdings auch hier von allen möglichen anderen Motivationen vorangetrieben.
Besonderes Augenmerk auf Gruppenstrukturen und Anreizsysteme
Dass wir in der Forschung diese Alltäglichkeit der Motivationen nun verstehen, ist ein wichtiger Schritt, um die Gewaltdynamiken besser erklären zu können. Aber noch wichtiger ist es, dass wir mit Hilfe dieses Verständnisses sinnvollere Strategien zur Prävention entwickeln oder zu einem angemesseneren Umgang mit der gewaltsamen Vergangenheit beitragen können. Doch welche Konsequenzen lassen sich aus der Forschung ableiten? Hinsichtlich der Gewaltprävention deuten die Forschungsergebnisse darauf hin, dass Programme, die interethnische Beziehungen stärken wollen, nicht unbedingt präventive Wirkung entfalten. Wenn die Beteiligung an der Gewalt eher in opportunistischen Abwägungen oder Dynamiken in der Tätergruppe begründet ist, sind die guten Beziehungen zu den Nachbarn, wie sie in Bosnien vor dem Bürgerkrieg auch gelebt wurden, letztlich nur hintergründig. Vielmehr muss ein Augenmerk auf Gruppenstrukturen und Anreizsysteme gelegt werden, um alternative Interpretationen der Gewaltsituation und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Das bedeutet beispielsweise in Kommunikationsstrukturen einzugreifen, oder Menschen zu sichtbarem Widerstand zu befähigen, um die Gruppendynamiken zu ändern. Das ist zwar deutlich komplexer, lässt aber auf eine wirksamere Prävention hoffen.
In Srebrenica schaute die Welt zu, wie sich ein Völkermord ereignete, obwohl die internationale Gemeinschaft Truppen vor Ort hatte und hätte eingreifen können. Auch wiegte sich die Welt in Sicherheit, dass das Problem ein Problem des Balkans sei, und somit in der Region zu erwarten sei. Die Gewaltforschung zeigt eindeutig, dass dem so nicht ist, sondern dass ethnischer Hass und Ideologien lediglich den Rahmen bereitstellten, aber Opportunismus und Gruppendynamiken viel wichtiger für eine Gewaltbeteiligung gewesen sind. Mit diesen Erkenntnissen wird nicht unbedingt der Wille der internationalen Gemeinschaft gestärkt, in diesen Situationen zu intervenieren. Sie verbessern aber möglicherweise die Fähigkeit, Interventionen besser auf die jeweilige Situation anzupassen.
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Titelbild: Prof. Timothy Williams (© Universität der Bundeswehr München)