Afghanistan: offizielle Entwicklungsleistungen versus humanitäre Hilfe

11 Oktober 2021

Wie ist die Situation der Bevölkerung im Land nach der Machtübernahme der Taliban? Prof. Gertrud Buchenrieder von der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften kommentiert das Geschehen in Afghanistan.

Ein Kommentar von Prof. Gertrud Buchenrieder, Professorin für Entwicklungsökonomie und -politik

Nicht nur Deutschland hat seine Entwicklungshilfe (der politisch korrekte Ausdruck ist "öffentliche Entwicklungsleistung") nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August eingefroren. Auf der Seite des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), wird als legitimer Empfängerstaat von öffentlichen Entwicklungsleistungen (ODA: Official Development Aid) nach wie vor die Islamische Republik Afghanistan geführt und nicht das am 16.08.2021 von den Taliban ausgerufene "Islamische Emirat Afghanistan". Solange die umstrittene Übergangsregierung, die aus 33 männlichen Ministern besteht, allesamt Taliban, nicht international anerkannt ist, können per Definition weder bilaterale oder multilaterale öffentliche Entwicklungsleistungen fließen. Und nach einer internationalen Anerkennung sieht es derzeit nicht aus, zumindest wenn man den Aussagen des deutschen Außenministers Heiko Maas und des US-Außenministers Antony Blinken im Anschluss an den virtuellen Außenministergipfel vom 08.09.2021 Glauben schenken darf. Allerdings, im ZDF Klartext vom 09.09.2021 mit dem damaligen Kanzlerkandidaten Armin Laschet sagte dieser auf die Aussage des Moderators „Aber Sie sind jedenfalls dafür, Herr Laschet, die Taliban-Regierung anzuerkennen?“ (ab Minute 56): „Nein, also indem jetzt wieder eine Vertretung Deutschlands dort ist, haben sie de facto eine Art Anerkennung, völkerrechtlich, politisch haben wir sie nicht anerkannt […] und wir werden weiter Druck machen auf die Taliban, nur wenn sie reden wollen mit denen oder wenn sie was erreichen wollen […], müssen sie reden und dieses Reden, finde ich, muss stattfinden.“ Laut einer repräsentativen Umfrage durch das Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur (dpa) will die große Mehrheit der Deutschen (67%), dass sich die Regierung gegenüber den Taliban in Afghanistan keine oder nur minimale Kontakte unterhält.

Schätzungen der Weltbank gehen dahin, dass die bereitgestellten öffentlichen Entwicklungsleistungen der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan in der Vergangenheit etwa 40% des Bruttoinlandsprodukts entsprachen. Ein Staat gilt als abhängig von internationaler Hilfe, wenn 10% oder mehr seines Bruttoinlandsprodukts aus dieser Quelle stammen. Die plötzliche Einstellung der internationalen öffentlichen Entwicklungsleistungen kommt einem massiven wirtschaftlichen Schock gleich.

Welche Länder sind berechtigt öffentliche Entwicklungsleistungen zu erhalten?

Der Entwicklungsausschuss (DAC: Development Assistance Committee) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD: Organisation for Economic Cooperation and Development) erstellt i. d. R. alle 3 Jahre die sogenannte DAC-Liste der Länder, die berechtigt sind, öffentliche Entwicklungsleistungen zu erhalten. Länder auf der DAC-Liste werden im Allgemeinen als Entwicklungsländer bezeichnet. Die Islamische Republik Afghanistan steht auf dieser Liste, jedoch nicht das "Islamische Emirat Afghanistan". Die Islamische Republik Afghanistan zählt zur Kategorie der am wenigsten entwickelten Länder (LDC: Least Developed Country). Neben der LDC-Kategorie, werden die berechtigten Empfängerländer in Niedrigeinkommensländer (LIC: Low Income Countries) unterteilt (jährliches Pro-Kopf-Einkommen  1,005 US-Dollar, gemessen am Bruttonationaleinkommen-BNE von 2016), die Länder mit niedrigem bis mittlerem Einkommen (LMIC: Lower and Middle Income Countries) mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 1,006-3,955 US-Dollar und Länder mit mittlerem bis hohem Einkommen (UMIC: Upper Middle Income Countries), in denen das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 3,956 und 12,235 US-Dollar liegt. Die Einkommensdaten kommen von der Weltbank. Länder, die zum Zeitpunkt der DAC-Überprüfung drei Jahre in Folge den Schwellenwert für hohes Einkommen überschritten haben, werden gestrichen.

Interessant ist, dass die aktualisierte DAC-Liste der Länder, die berechtigt sind, öffentliche Entwicklungsleistungen zu erhalten, im Juli 2021 turnusmäßig aktualisiert wird, allerdings bis dato noch nicht verfügbar ist. Es ist derzeit unwahrscheinlich, dass das "Islamische Emirat Afghanistan" auf der aktualisierten Liste stehen wird.

Was zählt als öffentliche Entwicklungsleistungen?

Öffentliche Entwicklungsleistungen (ODA) sind in der Regel Leistungen, die von der Regierung (bilateral) oder von einer internationalen Organisation wie den Vereinten Nationen (multilateral) bzw. deren damit beauftragten Agenturen auf Antrag an eine andere Regierung gegeben werden. Was öffentliche Entwicklungsleistungen sind, definiert der Entwicklungsausschuss, er erfasst auch die Aufwendungen der Geber für Entwicklungsleistungen und macht sie so vergleichbar.

Öffentliche Entwicklungsleistungen haben zum Ziel, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder auf der DAC-Liste zu fördern, sie fließen in den staatlichen Haushalt der Empfängerländer, in vereinbarte bilaterale Programme und Projekte oder werden an internationale Organisationen zugunsten der Länder auf der DAC-Liste vergeben. Öffentliche Entwicklungsleistungen können als 100-prozentiger Zuschuss gewährt werden, müssen aber nicht. Bei Darlehen an LDC und LIC muss das Zuschusselement allerdings mindestens 45% betragen, an LMIC 15% und an UMIC 10%. Basierend auf einer Vereinbarung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1972 ist es das erklärte Ziel der Geber, 0,7% ihres Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden. Deutschland hat dieses Ziel nach 2016 zum zweiten Mal im Jahr 2020 mit 0,73% erreicht.

Die Bereitstellung von Militärausrüstung und -dienstleistungen sowie der Erlass von zu militärischen Zwecken eingegangenen Schulden zählen nicht als öffentliche Entwicklungsleistung, werden jedoch von verschiedenen Geberländern, wie z. B. der USA zusätzlich unterstützt. Kosten, die in einem Land der DAC-Liste durch den Einsatz des Militärs zur Gewährung humanitärer Hilfe oder zur Umsetzung von Entwicklungsleistungen entstanden sind, sind wiederum als öffentliche Entwicklungsleistung anrechenbar.

Humanitäre Hilfe – nach welchen Grundsätzen wird sie bereitgestellt?

Das Ziel der humanitären Hilfe ist es, Menschen ein Überleben in Würde und Sicherheit zu ermöglichen, ihnen eine Lebensperspektive zu erhalten und menschliches Leid zu lindern. Die Zielgruppe der humanitären Hilfe sind Menschen, die sich aufgrund von Krisen, Konflikten oder Naturkatastrophen in einer akuten Notlage befinden und diese aus eigener Kraft nicht bewältigen können. Oftmals sieht sich auch die Regierung des betroffenen Entwicklungslandes mit der Nothilfe überfordert. Dazu kommen meist eine schlechte Sicherheitslage und ein hoher Zeitdruck. In Deutschland ist das Auswärtige Amt für die humanitäre Hilfe zuständig (das BMZ für die Entwicklungszusammenarbeit), da humanitäre Hilfe als Teil der Außenpolitik definiert wird. Auf der Ebene der Vereinten Nationen ist es das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA: Office for the Coordination of Humanitarian Affairs). OCHA wurde mit der VN-Resolution 46/182 im Jahr 1991 ins Leben gerufen. OCHA stellt unter https://reliefweb.int strukturierte Informationen zu humanitären Krisen, auch zu Afghanistan bereit.

Zentrale Grundlage der humanitären Hilfe sind die humanitären Prinzipien. Die Prinzipien "Menschlichkeit", "Neutralität" und "Unparteilichkeit" wurden mit der Resolution 46/182 der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1991 als Basis der weltweiten humanitären Hilfe anerkannt. Im Jahr 2003, wurden sie um das Prinzip der "Unabhängigkeit" erweitert (VN-Resolution 58/114).

In Deutschland regelt die im Jahr 2019 veröffentlichte "Strategie des Auswärtigen Amts zur humanitären Hilfe im Ausland" (PDF-Download: 3,1 MB) die Modalitäten der humanitären Hilfe. Grundsätzlich bleibt aber das Allgemeine Völkerrecht (Völkergewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze, Immunitäten, Recht der Staatenverantwortung, usw.) anwendbar, das die Pflicht zur Achtung elementarer Erwägungen der Menschlichkeit, der Verhältnismäßigkeit und der Solidarität vorsieht.

Der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten, Martin Griffiths, erklärte nach Gesprächen mit den Taliban (05.09.2021), dass die internationale Gemeinschaft sich verpflichtet fühle, "unparteiische und unabhängige humanitäre Hilfe" in Afghanistan zu leisten. Humanitäre Hilfe wird je nach Art der Krise in unterschiedlicher Form geleistet. Dazu gehörten die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln, medizinische Hilfe in Form von Medikamenten, Impfstoffen und psychosozialer Betreuung, Wasser- und Sanitärversorgung, Unterkunft, humanitärer Schutz, Notreparaturen an der Infrastruktur, Minen- und Kampfmittelräumung, Bildung, aber auch Hilfe in Situationen von Flucht und Vertreibung.

Der Generalsekretär António Guterres der Vereinten Nationen warnte bereits am 16. August 2021, dem Tag der Machtübernahme der Taliban, in einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat vor der sich anbahnenden humanitären Katastrophe in Afghanistan. Die humanitäre Krise hat vielfältige Ursachen. Afghanistan wurde von der zweiten Dürre innerhalb von vier Jahren heimgesucht, die etwa 40% der Weizenernte vernichtet hat. Die Covid-19-Pandemie betrifft auch Afghanistan, erst 1,1% der Bevölkerung sind geimpft. Die Machtübernahme der Taliban macht es für die Bevölkerung immer schwieriger, an grundlegende Güter und Dienstleistungen zu kommen. Gehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst werden nicht ausgezahlt. Die Währung hat an Wert verloren. Guthaben der afghanischen Regierung im Ausland sind seit der Machtübernahme der Taliban eingefroren. Die öffentlichen Entwicklungsleistungen aus dem Ausland wurden ausgesetzt. Der bevorstehende Winter wird die humanitäre Krise verschärfen, da manche Gebiete Afghanistans kaum mehr zugänglich sein werden. "Seit dem 15. August haben wir gesehen, wie sich die Krise mit dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch, der auf das Land zukommt, beschleunigt und verschärft hat", sagte Mary-Ellen McGroarty, Direktorin des Welternährungsprogramms in Kabul.

Von den 38 Millionen Afghanen sind nach Angaben der Vereinten Nationen 18 Millionen Menschen akut in ihrem Überleben bedroht. Jeder dritte Afghane wisse nicht, woher er seine nächste Mahlzeit bekomme. Die Zahl der notleidenden Bevölkerung könne sich in der nächsten Zeit womöglich verdoppeln. Deshalb bat der UN-Generalsekretär António Guterres die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen darum, den Menschen in Afghanistan in der „dunkelsten Stunde der Not“ zu helfen und zeitnah sowie umfassend Mittel bereitzustellen. "Wir appellieren auch an den uneingeschränkten und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe, um sicherzustellen, dass die Afghanen weiterhin die grundlegenden Dienstleistungen erhalten, die sie benötigen", sagte er. Dafür fand am 13.09.2021 eine sehr ergiebige Geberkonferenz der Vereinten Nationen in Genf, Schweiz statt, bei der die UN-Mitgliedsländer in etwa eine Milliarde US-Dollar versprochen haben – denn humanitäre Hilfe kann auch fließen, wenn die öffentlichen Entwicklungsleistungen (ODA) der internationalen Gemeinschaft erst einmal ruhen müssen.


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Titelbild: © gettyimages / MivPiv (Archivbild von 2008)