Humanitäre Krisen – was tun mit immer mehr Flüchtlingen?

8 Juni 2021

In einem aktuellen kollaborativen Forschungsprojekt zu Bürgerkriegsflüchtlingen aus der Zentralafrikanischen Republik in Kamerun untersucht Prof. Gertrud Buchenrieder wie humanitäre Hilfsangebote wirken

Ein Beitrag von Prof. Gertrud Buchenrieder, Professorin für Entwicklungsökonomie und -politik

Humanitäre Krisen mit steigenden Flüchtlingszahlen und Binnenvertriebenen erregen zunehmend die Aufmerksamkeit von Politikern, humanitären Hilfsorganisationen und Forschern. Im Jahr 2019 wurden mehr als 79 Millionen Menschen vertrieben. Laut dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), war diese Zahl Mitte des Jahres 2020 bereits überschritten. Rund die Hälfte aller Menschen auf der Flucht sind Kinder. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Druck auf humanitäre Hilfsorganisationen zunimmt, wirksame Strategien zur Linderung der unmittelbaren Not und der Hilfe zur Selbsthilfe denjenigen anzubieten, die gezwungen sind, aus ihren Heimatländern oder Heimatregionen zu fliehen, d. h. Flüchtlinge und Binnenvertriebene.

Als Flüchtling gilt eine Person, die eine internationale Grenze überquert, um der Verfolgung aufgrund Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aufgrund politischer Überzeugung zu entkommen. Auch gab es in der jüngsten Vergangenheit immer mehr Menschen, die aus Kriegsgebieten geflohen sind. Diese Menschen erhalten in der Regel Hilfe im Aufnahmestaat, u. a. durch humanitäre Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen, da sie durch internationale Abkommen geschützt sind. Menschen in ähnlichen Situationen, die zwar ihre Heimatregion verlassen, aber in ihrem Heimatstaat bleiben, werden zu Binnenvertriebenen. Für ihren Schutz ist eigentlich der jeweilige Staat zuständig, der diesen in vielen Fällen aber nicht mehr gewährleisten kann oder will.

Obwohl das Thema Flüchtlinge in Hocheinkommensländern wie Deutschland sehr präsent ist, sind es die Entwicklungsländer, die die überwiegende Zahl (86 %) aller Flüchtlinge und Binnenvertriebener aufnehmen und versorgen. Offensichtlich sind nicht nur die Menschen auf der Flucht arm und vulnerabel, sondern auch die Menschen in den aufnehmenden Regionen in Entwicklungsländern. Deshalb unterstützen die humanitären Hilfsorganisationen auch jene Gemeinden und Städte, bzw. deren Bürgerinnen und Bürger, die Flüchtlinge und Binnenvertriebene aufgenommen haben. Die Unterstützung beider Seiten soll sozialen Konflikten zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Menschen auf der Flucht vorbeugen, die aufgrund von Missgunst und Verlustängsten entstehen könnten. Diese Entwicklung ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Flüchtlinge, laut UNHCR (PDF-Download: 0,3 MB), im globalen Durchschnitt 26 Jahre als Schutzsuchende im Gastland verbleiben, bevor sie in ihr Heimatland zurückkehren können. Deshalb ist nicht nur Nothilfe, sondern auch Hilfe zur Selbsthilfe zentral.

Bürgerkriegsflüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik in Kamerun

Im aktuellen Forschungsprojekt zu Bürgerkriegsflüchtlingen aus der Zentralafrikanischen Republik, die Kamerun aufgenommen hat, geht es darum, zu ermitteln, welche Wirkung die existierenden humanitären Hilfsangebote von nationalen und internationalen Organisationen auf die menschliche Sicherheit der Schutzsuchenden und der Schutzgebenden hatte. Die Zentralafrikanische Republik ist eines der ärmsten Länder der Welt und gehört laut UNHCR seit 5 Jahren in Folge zu den 10 humanitären Krisen, über die am wenigsten berichtet wird. Über 630.000 Menschen sind aufgrund der seit Jahren andauernden Gewalt geflüchtet; 320.000 allein nach Kamerun. Über 150.000 Menschen wurden allein von den 3 Regierungsbezirken Bomba & Ngoko, Kadey sowie Lom & Djerem in der Region Ost in Kamerun aufgenommen, die an die Zentralafrikanische Republik angrenzen (siehe Karte).

Karte der Region Ost-Kamerun mit Darstellung des prozentualen Anteils von Flüchtlingen in Lagern im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerungen (z. B. die Flüchtlinge im Lager von Mbile entsprechen 2272% im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung), Hilfsbüros und Krisenorten (Quelle: eigene Erhebungsdaten, erstellt mit ARC GIS; siehe auch Agwa (2021, S. 188)).

Karte der Region Ost-Kamerun mit Darstellung des prozentualen Anteils von Flüchtlingen in Lagern im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerungen (z. B. die Flüchtlinge im Lager von Mbile entsprechen 2272% im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung), Hilfsbüros und Krisenorten (Quelle: eigene Erhebungsdaten, erstellt mit ARC GIS; siehe auch Agwa (2021, S. 188)). Für eine größere Darstellung bitte auf das Bild klicken.

Menschliche Sicherheit – Freiheit von Mangel und Furcht

Das Konzept der menschlichen Sicherheit wurde im entwicklungspolitischen Kontext erstmals 1994 durch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) vorgestellt und seitdem stetig weiterentwickelt. Die menschliche Sicherheit befasst sich mit zwei grundlegenden menschlichen Ansprüchen, nämlich der Freiheit von Mangel und der Freiheit von Furcht. Diese beiden Säulen sind von dem Recht auf ein menschenwürdiges Leben geprägt. Die Freiheit von Mangel ist mit 4 Dimensionen unterlegt: wirtschaftliche Sicherheit, Nahrungssicherheit, gesundheitliche Sicherheit und Umweltsicherheit. Persönliche Sicherheit, Sicherheit der Gemeinschaft und politische Sicherheit sind die 3 Dimensionen, die zur Freiheit von Furcht gehören. Menschliche Sicherheit wird also durch 7 Dimensionen definiert.

Die menschliche Sicherheit betont den Schutz des einzelnen Individuums (und nicht den Schutz des Bürgers/der Bürgerin) vor chronischen und plötzlichen Bedrohungen sowie die Sicherung des Überlebens, des Lebensunterhalts und der Würde. Menschliche Sicherheit betrachtet nicht die territoriale Sicherheit von Personen als Bürgerinnen und Bürger (zu der auch Binnenvertriebene gehören würden), sondern allgemeiner. Dabei wird die Souveränität des jeweiligen Staates respektiert.

Feldforschung am Rande eines Bürgerkriegs

Die Feldforschung fand in den 3 Regierungsbezirken Bomba & Ngoko, Kadey sowie Lom & Djerem der Region Ost in Kamerun statt (vgl. Karte oben). Diese Region grenzt an die Zentralafrikanische Republik an und nimmt seit Jahren eine große Zahl an Flüchtlingen auf. Es wurde eine zufällige und repräsentative Stichprobe von mehr als 3.500 Menschen in 11 Gemeinden/Städten mit einem strukturierten Fragebogen befragt. Bei mehr als 1.500 Menschen handelte es sich um Flüchtlinge, etwa 50 % davon waren Frauen. In 7 der zufällig ausgewählten Orte waren Flüchtlingslager angesiedelt worden, ansonsten wurden die Flüchtlinge dezentral untergebracht. Drei Gemeinden hatten keine Flüchtlinge aufgenommen, sie stellten die Kontrollgruppe dar. Die Befragung fand mit Hilfe von Personal Digital Assistants (PDA, Anm. d. Red.: kleine tragbare Computer) statt. Die aufgenommenen Daten wurden immer dann in eine Cloud geladen und gesichert, wenn die Leiterin vor Ort (Dr. Agwa) des mehr als 20 Personen umfassenden Befragungsteams Zugang zum Internet hatte. Mit Kindern und anderen relevanten Gruppen, beispielsweise Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern wurde im Rahmen von Fokusgruppeninterviews gesprochen.

Erste Forschungsergebnisse – mehr Sicherheit vor Furcht, aber nicht vor Mangel

Die menschliche Sicherheit wurde mit Hilfe eines individuellen Index, ähnlich dem Index der menschlichen Entwicklung der UNDP, gemessen. Der Index der menschlichen Sicherheit kann zwischen Null und Eins variieren. Werte unterhalb von 0,550 zeigen eine niedrige menschliche Sicherheit an, 0,550-0,699 eine mittlere, 0,700-0,799 eine hohe und Werte oberhalb von 0,800 eine sehr hohe menschliche Sicherheit. Alle befragten Menschen, unabhängig davon, ob sie kamerunische Bürgerinnen und Bürger oder Flüchtlinge waren, wiesen eine niedrige menschliche Sicherheit von im Durchschnitt 0,457 auf, wobei die menschliche Sicherheit von dezentral untergebrachten Flüchtlingen nur minimal unter der der Einheimischen lag, die in Lagern untergebrachten Flüchtlinge wiesen den niedrigsten Indexwert auf. Bereits dieses erste Ergebnis zeigt die enorme Belastung für ein Entwicklungsland, das Flüchtlinge aufnimmt.

Sieht man sich einige der 7 Dimensionen der menschlichen Sicherheit genauer an, gibt es deutliche Unterschiede zwischen der kamerunischen Bevölkerung und den Flüchtlingen. Die wirtschaftliche Sicherheit von Flüchtlingen, die in Lagern (+ 35 %) oder dezentral (+ 17 %) untergebracht sind, ist – aufgrund der humanitären Hilfe –  besser als die der Menschen in den gastgebenden Gemeinden und Städten. Dies mag einer der Auslöser für Missgunst und Verlustängste sein. Trotzdem ist die Nahrungssicherheit der Flüchtlinge schlechter als die der Einheimischen. Dies kann teilweise auf gestiegene lokale Preise für Nahrungsmittel durch die erhöhte Nachfrage zurückgeführt werden, darauf, dass die Nahrungsmittelhilfe in den Lagern ungenügend und kulturell inkompatibel ist und dezentral untergebrachte Flüchtlinge nicht genug Ackerland haben, um genügend Nahrung für sich anzubauen. Hinsichtlich der gesundheitlichen und Umweltsicherheit gab es keine nennenswerten Unterschiede, der Mangel besteht bei beiden Gruppen weiter.

Es mag nicht erstaunen, dass die interviewten Flüchtlinge die Freiheit von Furcht auf einem niedrigen Niveau, aber besser als ihre kamerunischen Gastgeber einschätzten. Sie bewerteten ihre Sicherheit in der Gemeinschaft (+ 22 %) und die politische Sicherheit (+ 25 %) im Durchschnitt deutlich besser als die kamerunischen Bürgerinnen und Bürger in den schutzbietenden Gemeinden, sind erstere doch dem Bürgerkrieg entflohen. Nichtsdestotrotz gibt es auch Übergriffe in der lokalen Gemeinschaft, insbesondere durch Beleidigungen und Einschüchterungen, hauptsächlich ausgelöst durch die Konkurrenz um knappes Wasser, Holz und Land zur Daseinsfürsorge. Teilweise äußerten die Mitglieder der gastgebenden Gemeinden ihre Unzufriedenheit über zu viel Schutz für Flüchtlinge, der letztere dazu veranlasse, die Traditionen und Regeln des Lebens in der Gemeinde gering zu achten. Obwohl die politische Sicherheit durch die Flüchtlinge wertgeschätzt wird, gibt es auch in Kamerun Übergriffe, insbesondere durch Polizisten. Flüchtlinge erzählten auch von Beschimpfungen durch einzelne Polizisten, so oder so ähnlich: „Ihr habt euer eigenes Land zerstört, jetzt wollt ihr unseres zerstören.“ Auffällig ist jedoch, dass die persönliche Sicherheit, also die Sicherheit vor physischer Gewalt sowohl von dezentral (- 1,5%) als auch von in Lagern untergebrachten Flüchtlingen (- 3,6%) niedriger bewertet wird als von den kamerunischen Gastgebern. In den Fokusgruppeninterviews wurde berichtet, dass es gegenüber den Flüchtlingen zu bewaffneten Diebstählen von Hilfsgütern kam, Vergewaltigungen, aber auch von häuslicher Gewalt – insbesondere in den Lagern, sowie von einer Gefährdung von Kindern, die in Minen arbeiten oder Tabak pflücken, um die Familie finanziell zu unterstützen. 

Humanitäre Hilfe für mehr menschliche Sicherheit?

Welchen Beitrag liefern die humanitären Hilfsangebote mit Blick auf die menschliche Sicherheit? Im Forschungsprojekt wurde zwischen 3 Strategien unterschieden: unmittelbare Notfallhilfe (z. B. Nahrung, Wasser, Kleidung, Decken, Unterkunft, etc.), frühe Wiederaufbauhilfe (z. B. Beschäftigung, Bereitstellung von Saatgut, Vieh, Werkzeug, etc.) und Hilfe zur Resilienzsteigerung (z. B. Maßnahmen zur Integration von Flüchtlingen und zum sozialen Zusammenhalt, Förderung von Kleinstunternehmen, Verbesserung des Marktzugangs, etc.). Gerade die letzten beiden Hilfsstrategien sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass Flüchtlinge unter Umständen viele Jahre im Aufnahmeland verbleiben.

Notfallhilfe soll den unmittelbaren Mangel mildern. Wiederaufbauhilfe – auch im Gastland – geht einen Schritt weiter. Sie hat zum Ziel, dass die Flüchtlinge nicht dauerhaft auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen sind. Resilienz ist als Fähigkeit zu verstehen, gegenüber Krisen und Schocks widerstandsfähig zu sein, d. h. sich daran anzupassen und, wenn nötig, grundlegende Veränderungen selbst vornehmen zu können. Eine größere Resilienz kann – bis zu einem gewissen Grad – von Furcht befreien.

Die parametrische Analyse der repräsentativen Stichprobe hat keinen einheitlichen Trend für die Wirkung der Notfall- und Wiederaufbauhilfe auf die allgemeine menschliche Sicherheit der Flüchtlinge und der Menschen in den gastgebenden Gemeinden ergeben. Notfallhilfe hat einen positiven Effekt auf die menschliche Sicherheit der Flüchtlinge. Wiederaufbauhilfe wirkt sich nicht nur positiv auf dezentral untergebrachte Flüchtlinge aus, sondern auch auf die Menschen in den gastgebenden Gemeinden. Hilfsmaßnahmen im Rahmen der Resilienzsteigerung scheinen noch keinen positiven Effekt zu haben, im Gegenteil. Dies kann daran liegen, dass der Aufwand für die Betroffenen kurzfristig größer als der Nutzen bewertet wird; dass nach wie vor täglich neue Flüchtlinge ankommen, die andere Bedürfnisse haben, oder daran, dass es sich eher um strukturelle Herausforderungen (wie z. B. den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen) handelt. Die Forschung vor Ort hat aber auch gezeigt, dass die Koordination der internationalen und nationalen Hilfsorganisationen verbesserungswürdig ist und dass oftmals der Überblick darüber fehlt, welche Maßnahmen durch welche Organisation in welchem Umfang und für wen, wann bereitgestellt wurden. Auch die Zusammenarbeit mit den lokalen Verwaltungsautoritäten und die Berücksichtigung ihres indigenen Wissens hat noch Ausbaupotential.

Diese systematische und für die Region Ost Kameruns repräsentative Grundlagenstudie ist ein erster Beitrag zum besseren Verständnis davon, wie humanitäre Hilfsangebote wirken – und zwar nicht nur mit Blick auf die Flüchtlinge, sondern auch die arme gastgebende Bevölkerung in Entwicklungsländern.

 


Promotions-Projekt von Frau Dr. Tabi Cherrycharry Agwa, The ICT University, Yaoundé, Cameroon:

„Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik im Osten Kameruns: Menschliche Sicherheit von Flüchtlingen und Bürger*innen der schutzgebenden Regionen im Kontext der Hilfsangebote durch humanitäre Hilfsorganisationen“ (2019-2021)

Gefördert durch die Universität der Bundeswehr München
Laufzeit: 2019-2021
Projektleiterin: Prof. Dr. Gertrud Buchenrieder (UniBw München)
Partner in Kamerun: Prof. Dr. Azibo Roland Balgah (University of Bamenda, Bamenda, Cameroon)

Agwa, T.C. (2021). Central African Refugee Influx in the East Region of Cameroon:  Human Security of Refugees and Host Communities in the Context of Response Strategies of Humanitarian Organizations. Dissertation advised by Prof. Dr. Gertrud Buchenrieder and Prof. Dr. Azibo Balgah. Yaoundé, Cameroon: ICT-University.

 

Hinweise auf die Arbeiten von Prof. Buchenrieder finden Sie hier auf ihrer Professurseite >>


Haftungsausschluss: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.


Titelbild: Eine Mitarbeiterin des Befragungsteams bei der Arbeit mit Kindern ( © Dr. Tabi Cherrycharry Agwa)