Überflutung: „Unsere Städte müssen grüner und blauer werden“
9 August 2021
Der Sommer 2021 in Deutschland ist geprägt von extremen Dauerregen, Starkregen und Hochwasser. Allein in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen starben Mitte Juli mehr als 150 Menschen. Mehrere Tausend Bürger mussten vor den Fluten in Sicherheit gebracht worden. Auch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen kämpften in den vergangenen Wochen mit horrenden Wassermassen. Wir haben bei Prof. Wolfgang Günthert nachgefragt, wie er die Hochwasserkatastrophe einschätzt, welche Fehler begangen wurden und wie die Bevölkerung in der Zukunft noch besser geschützt werden kann.
Ein Interview mit Prof. Dr.-Ing. i.R. Frank Wolfgang Günthert, Fakultät für Bauingenieurwesen und Umweltwissenschaften (BAU)
Prof. Günthert, das europäische Frühwarnsystem EFAS hatte offenbar schon Tage vor den ersten Überschwemmungen in Deutschland Warnungen herausgegeben, diese wurden aber nicht beachtet. Was muss Ihrer Meinung nach hier in Zukunft anders gemacht werden?
Wichtig wäre für mich erst einmal die Frage: Was bedeuten die Warnungen? Ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen bei Unwetter-Warnungen über die Nachrichten oder Wetter-Apps nicht wissen, was das für sie konkret bedeutet. Ist er oder sie selbst überhaupt davon betroffen? Und welche Gefahren kommen auf sie zu? Das nächste ist, dass die Menschen heute auch gar nicht wissen, was dann zu tun ist. Sollen sie in den Keller gehen? Oder ins Dachgeschoss? Sollen sie das Haus verlassen?
Ich glaube das ist das Problem: Die Warnungen und ihre Konsequenzen sind den meisten nicht bekannt. Und dann besteht natürlich auch die berechtigte Frage, ob alle Betroffenen überhaupt erreicht werden können. Es gibt verschiedene Meldewege, die auch in der Politik diskutiert werden. Über Handys ist es ja gut, aber gerade ältere Menschen besitzen oder nutzen diese häufig nicht. Ich glaube da muss man über viel mehr Wege nachdenken. Aber da ist man auf einem guten Weg. Das wurde nun erkannt, dass die Warnungen, die bisher laufen, nicht ausreichend sind. Bei solchen Katastrophen muss man dennoch festhalten: Es gibt keinen absoluten Schutz. Aber durch entsprechende Vorsorgemaßnahmen kann man zumindest vermeiden, dass Menschenleben gefährdet sind.
Welche Maßnahmen sollten ergriffen werden um bei Extremwetterereignissen besser vorbereitet zu sein?
Die Warnungen allein sind sicherlich nicht ausreichend – sie sind eine Ergänzung. Entscheidend sind die Vorbeuge-Maßnahmen. Zunächst muss ich die Gefahren analysieren. Das sind natürlich einerseits Niederschlag und Oberflächenabfluss. Gefahren gehen aber genauso von Gewässern aus. Häufig auch von kleinen Gewässern, die manchmal ganz unscheinbar laufen, die können plötzlich zu riesigen Flüssen anschwellen. Und – was Vielen nicht bekannt ist – es gibt auch Gefahren aus der Kanalisation heraus. Das heißt, wir müssen viel mehr informieren und Vorsorgemaßnahmen ergreifen.
Wichtig ist auch: Maßnahmen sind nicht nur vom Staat zu ergreifen – er ist sicherlich ein Teil. Aber genauso sind die Kommunen gefordert und auch jeder und jede Einzelne. Sie müssen Maßnahmen in ihren Gebäuden ergreifen. Es ist ein Dreiklang zwischen Staat, Kommunen und Grundstückseigentümer.
Sie plädieren für individuelle Risikoanalysen für die Gemeinden, welche Vorteile hätte eine solche Art der Prüfung?
Eine Risikoanalyse besteht immer zuerst aus einer Gefahrenanalyse. Wenn extreme Niederschläge kommen, muss ich also wissen: Wo fließt das Wasser hin? Und wie hoch steht das Wasser dann wo? Wenn ich die Fließwege vom Oberflächenwasser, von Gewässern und auch von Kanalisationen kenne, überlege ich: Wer ist gefährdet? Es folgt also die Risikoanalyse. Es kann nicht angehen, dass bei Starkregen Krankenhäuser, Kindergärten oder Altenheime überflutet werden. In der Risikoanalyse wird also geklärt, welche Objekte besonders gefährdet sind und eines besonders hohen Schutzes bedürfen. Das ist ganz wichtig. Trifft es die Industrie, dann ist das traurig und es kostet viel Geld. Aber Menschenleben müssen bei der Risikoanalyse die oberste Priorität sein.
Mein Wunsch und auch meine Bitte ist es daher, dass in allen besiedelten Gebieten diese Gefahrenanalysen gemacht werden. Denn Starkregengefahren können überall auftreten. Die Analysen werden jetzt zunehmend dort gemacht, wo Gebiete bereits betroffen waren. Die Tücke bei der Sache ist, dass viele Gemeinden, die jetzt nicht betroffen waren, sagen: Ja gut, bei uns passiert ja nichts. Sie wiegen sich in einer falschen Sicherheit. Gefahrenanalysen müssen aber überall gemacht werden, wo besiedelte Gebiete sind.
Es gibt Modelle zur Gefahrenanalyse. Wir haben hier an der Universität, gemeinsam mit einem Software-Unternehmen und einem Ingenieurbüro, vor zehn Jahren bereits ein Modell entwickelt, wie man diese Oberflächenabflüsse simulieren kann, wie man die Überflutungsgefahr aus der Kanalisation analysieren kann, wie man Gewässer simulieren kann – und zwar alles drei gekoppelt.
Neben dem drastischen Klimawandel gibt es Ihrer Meinung nach auch zahlreiche andere Gründe für die Zunahme von Überschwemmungen, welche sind dies?
Es ist bekannt, dass es immer stärkere und intensivere Niederschläge gibt. Was das Ganze noch verstärkt, ist der demographischer Wandel. Es gibt einen immer größeren Zuzug in die Städte. Wir brauchen immer mehr Wohnraum, wir brauchen immer mehr Verkehrswege, wir brauchen immer mehr Platz für Industrie- und Gewerbegebiete. Das hat zur Folge, dass wir unsere Fläche immer mehr versiegeln, immer mehr verdichten und damit das Niederschlagswasser, das ursprünglich seinen normalen Weg gegangen ist, diesen nicht mehr gehen kann. Es kommt – speziell in Siedlungen – immer mehr zum Abfluss an der Oberfläche. Im Umfeld von Siedlungen werden zum Teil die Böden durch intensive Landwirtschaft verdichtet. Dadurch wird auch der Oberflächenabfluss von den landwirtschaftlichen Flächen immer stärker. Hier fließt dann jedoch nicht nur Wasser ab, sondern es hat hier auch eine sehr starke Schleppkraft. Es transportiert also auch Bodenmaterial und das ist dann die Katastrophe: Wenn Wasser und Schlamm in die Siedlung fließen, sind die Auswirkungen erst recht verheerend.
Das muss man wirklich in den Griff bekommen und da gibt es auch Lösungen, an denen ich auch mitgewirkt habe. Es gibt vom bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz eine Broschüre über „Wassersensible Siedlungsentwicklung“ – kurz zusammengefasst: Unsere Städte müssen grüner und blauer werden. Das heißt: Mehr Pflanzen, mehr Freiraum fürs Wasser, dann haben wir einerseits viel schönere und andererseits auch sicherere Lebensbedingungen. Auch das Stadtklima verändert sich dadurch. In der Stadt zeigt das Thermometer häufig mehr Grad als außerhalb. Das kann durch grüne und blaue Infrastruktur verbessert werden.
Wie können sich einzelne Bürgerinnen und Bürger selbst vor Hochwasser und Überschwemmungen schützen und welche Maßnahmen sollte er im Akutfall ergreifen?
Sie sind natürlich zunächst einmal überfordert, denn sie wissen nicht, in welcher Gefahr sie sich eigentlich bewegen. Wenn ich durch die Analyse weiß, in welcher Gefahrenlage ich bin, kann ich ganz einfach erst einmal um mein Haus rumgehen und schauen: Wo habe ich Kellerabgänge, wo habe ich Kellerlichtschächte, wo habe ich ebenerdige Eingänge? Und dann muss ich mir überlegen: Will ich mich im Zweifelsfall mit Sandsäcken schützen? Wobei ich sagen muss, Sandsäcke haben nur dann einen Sinn, wenn ich eine entsprechend lange Vorwarnzeit habe, was bei Starkregen nicht der Fall ist. Aus meiner Sicht sind permanente Schutzvorkehrungen sicherer: Es gibt dichte Kellerlichtschächte und dichte Türen, die dauerhaft dicht sind – aber auch das ist kein absoluter Schutz. Ich muss also überlegen, wo ich welche Räume einrichte. Wenn ich im Keller Schlafräume habe, dann finde ich das in einem gefährdeten Gebiet unverantwortlich – mir selbst und auch anderen Menschen gegenüber, wenn ich so eine Wohnung vermiete. Das ist heute auch ein generelles Problem beim Bauen. Es sollte in besonders gefährdeten Gebieten überlegt werden, ob es sinnvoll ist, Wohn- und Schlafräume im Keller und auch im Erdgeschoss überhaupt zuzulassen. Man muss also auch bei der Baunutzung und genauso beim Bauschutz überlegen, wie ich mich schützen kann.
Nach den jüngsten Unwetterkatastrophen flammt die Debatte um eine Elementarschadenpflichtversicherung wieder auf. Wie ist Ihre Meinung hierzu?
Grundsätzlich fände ich eine Pflicht sehr sinnvoll. Gerade weil viele Menschen nicht wissen, in welcher Gefahr sie leben. Denn wie man sieht, passiert eben auch in Gebieten etwas, wo solche Katastrophen noch nie aufgetreten sind und dann kann eine Versicherung zumindest das Finanzielle etwas ausgleichen. Wobei man bei der Elementarschadenversicherung ja auch immer bedenken muss: Die zahlen auch nicht alles. Wenn ich keine Rückstausicherung im Keller habe, dann wird die Versicherung wahrscheinlich nicht zahlen, wenn der Keller durch die Kanalisation überflutet wird. Die Versicherung allein nützt also nichts. Ich muss trotzdem auch meine Anlage nach den technischen Regeln bauen und unterhalten – auch Rückstausicherungen müssen regelmäßig überprüft werden, ob sie überhaupt funktionsfähig sind.
Deswegen denke ich, dass eine Elementarschadenversicherung grundsätzlich gut ist – ich würde sie auch als Pflichtversicherung empfehlen. Allerdings gibt es hier auch viele Gegenstimmen, die anmerken: Wenn ich eine Gefahrenanalyse habe, werde ich dann überhaupt versichert? Da muss sicher der Staat mit eingreifen, dass es für besonders gefährdete Gebiete gegebenenfalls eine Unterstützung gibt oder die Wohnnutzung eingeschränkt oder untersagt wird.
Titelbild: © gettyimages / Animaflora