Afghanistan: Der schnelle und ungebremste Vormarsch der Taliban
2 September 2021
Die Afghanische Nationalarmee – Ist es wirklich so erstaunlich, dass sie sich den Taliban kaum entgegengestellt hat?
Ein Kommentar von Prof. Gertrud Buchenrieder, Professorin für Entwicklungsökonomie und -politik
Nicht erst seit dem Jahr 2001, in dem der Einsatz der NATO (North Atlantic Treaty Organization) als Bündnisfall nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York auf Wunsch der USA begonnen hat, um dem von Afghanistan ausgehenden Terrorismus ein Ende zu bereiten, bereits Jahrzehnte davor befand sich Afghanistan im Kriegszustand. Nach zwei Jahrzehnten entschloss sich die USA unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump gegen einen weiteren Verbleib in Afghanistan. Von Afghanistan gehe keine so große Bedrohung mehr aus, dass dort weiter Truppen stationiert sein müssten. Grundlage ist das sogenannte 2020-Doha-Abkommen (offizieller Titel „Agreement for Bringing Peace to Afghanistan“) zwischen den USA und den Taliban, einer radikalislamischen Miliz. In der US-amerikanischen Regierung hatte sich nach fast 20-jährigem Militäreinsatz die Überzeugung festgesetzt, dass es in Afghanistan zu keinem dauerhaften Frieden kommen kann, solange die Taliban nicht mit am Verhandlungstisch sitzen.
Die Vereinbarung regelt den Rückzug aller Truppen der USA und ihrer NATO-Verbündeten, im Gegenzug machte der Taliban Sicherheitszusagen. Allerdings, die afghanische Regierung und die NATO-Verbündeten waren nicht in die Verhandlungen einbezogen, nichtsdestotrotz wurde das Abkommen vom UN-Sicherheitsrat einstimmig befürwortet. Nachdem der gegenwärtige US-Präsidenten Joe Biden sich schon während des Wahlkampfs für den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan ausgesprochen hatte, hielt er am Abkommen mit der Begründung fest (14. April 2021): „Wir haben [unsere] Ziele erreicht. Bin Laden ist tot, und Al Qaida ist zerschlagen, im Irak, in Afghanistan. Es ist an der Zeit, den ewigen Krieg zu beenden.“ Der Krieg in Afghanistan wäre nie als Aufgabe für mehrere Generationen gedacht gewesen. Es sei an der Zeit, dass die gut ausgebildeten und ausgestatteten (auf dem Papier) 350.000 afghanischen Soldaten und Polizeikräfte in ihrem Land selbst für die Sicherheit der Bürger und Bürgerinnen sorgen.
Der schnelle und ungebremste Vormarsch der Taliban
Es war klar, wenn die USA als größter Truppensteller Afghanistan verlassen, bedeutet dies das Ende des Nato-Einsatzes insgesamt. Am 29. April 2021 begannen die USA und ihre NATO-Verbündeten ihren Abzug aus Afghanistan, der bis Ende August vollzogen sein sollte. Bereits im Mai kam es zu Kämpfen zwischen afghanischen Regierungstruppen und den Taliban – schließlich hatten die Taliban der afghanischen Regierung gegenüber keine Sicherheitszusagen im Doha-Abkommen gemacht. Provinzhauptstädte wurden eingenommen, wichtige Verbindungswege unter ihre Kontrolle gebracht, die afghanischen Regierungstruppen vom Nachschub (Essen, Wasser, Munition, Treibstoff) abgeschnitten. Forderungen nach einem Waffenstillstand ignorierten die Taliban. Obwohl die Taliban ohne nennenswerten Widerstand der Afghanischen Nationalarmee, die militärisch überlegen ausgestattet war, vorrückten, ging der Abzug der amerikanischen und der anderen NATO Truppen weiter.
Wie es Prof. Carlo Masala (UniBw M) ausdrückte: Der Westen lies die afghanische Armee blind zurück. Nur wenige Monate später, am 16.08.2021 besetzten die Taliban den Präsidentenpalast in Kabul und übernahmen die Macht. Der afghanische Präsident Ashraf Ghani war kurz zuvor außer Landes geflohen, einen offiziellen Rücktritt gibt es bisher aber noch nicht. Wenig überraschend lehnen die Taliban die afghanische Verfassung ab, wollen sie durch ein „wahrhaft islamisches System“ ersetzen und riefen bereits am 19.08.2021 das „Islamisches Emirat Afghanistan“ aus. Obwohl bereits einige Staaten Gespräche mit den Taliban aufgenommen haben, wird das Emirat bisher von keinem Land offiziell anerkannt.
Wie konnte es sein, dass die Afghanische Nationalarmee trotz überlegener Ausstattung kaum Widerstand leistete?
Die westliche Welt tat überrascht und schockiert. Beispielhaft für viele ähnliche Aussagen, sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas im „heute journal“ (17.08.2021): Niemand habe damit gerechnet, dass die Taliban nach dem Abzug der Nato-Streitkräfte so schnell Kabul einnehmen würden. Das sei offensichtlich eine große Fehleinschätzung des Westens gewesen. Haben die militärische Aufklärung und die Nachrichtendienste diese Entwicklung wirklich nicht vorhergesehen? Kaum zu glauben.
Bereits im Jahr 2011 kam der Weltentwicklungsbericht der Weltbank mit dem Titel „Conflict, Security, and Development“ heraus. Der Weltentwicklungsbericht 2011, (S. 1f) geht der Frage nach, was gewalttätige Konflikte auslöst, warum sich Konfliktprävention und Wiederaufbau als so schwierig erwiesen haben und was getan werden kann, um in den fragilsten und von Gewalt geprägten Gebieten der Welt wieder einen stabilen Entwicklungspfad einzuschlagen. Die zentrale Botschaft des Berichts lautet, dass die Stärkung glaubwürdiger, legitimer staatlicher Institutionen eine Grundvoraussetzung ist, diese Institutionen müssen aber nicht notwendigerweise dem westlichen Demokratieverständnis entsprechen: „Democratization does not start or end with elections“ (World Bank 2011: 15). Sie legen aber die Grundlage, um den Bürgern und Bürgerinnen Sicherheit, Zugang zu und Gleichheit vor der Justiz, und Arbeitsplätze zu gewährleisten. Dies sei entscheidend, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen.
Nicht zu viel und zu schnell erwarten
Diese Empfehlungen sind erst einmal wenig erstaunlich. In der einen oder anderen Weise, wurde ja genau dies auch in Afghanistan versucht umzusetzen. Erstaunlich ist jedoch, der Zeitumfang, der im Weltentwicklungsbericht 2011 selbst unter optimistischen Bedingungen dafür veranschlagt wird, eine legitime und funktionale Staatlichkeit aufzubauen.
Der Weltentwicklungsbericht 2011 (World Bank 2011: 108f) schaut sich u. a. an, wie lange ein fragiles und von Gewalt betroffenes Land braucht, um ein Niveau an funktionaler Staatlichkeit aufzubauen, das an der Schwelle zur Stabilität und angemessener (wenn auch nicht guter) Regierungsführung ist. Das entsprechende Hintergrundpapier von Pritchett und de Weijer (2010) zum Weltentwicklungsbericht griff hierbei in seiner Analyse auf zwei Datenbanken zurück: „International Country Risk Guide (IRCG)“ (1985-2009) und „World Governance Indicators (WGI)“ (1996-2008). Betrachtet wurde inwiefern das Militär Einfluss auf die Politik ausübt, die Qualität der Bürokratie, das Niveau der Korruption und die Eindämmung der Korruption, die Effektivität der Regierungsführung sowie die Einhaltung der Rechtstaatlichkeit. Die Tabelle fasst die Ergebnisse zusammen.
In den 20 fragilen Staaten, die den schnellsten Fortschritt erzielten, dauerte es durchschnittlich 17 Jahre, um den Einfluss des Militärs auf die Politik auf ein akzeptables Niveau zu reduzieren; 20 Jahre, um die Bürokratie auf ein Niveau zu bringen, das mit Stabilität und guter Regierungsführung vereinbar ist; 27 Jahre dauerte es im Durchschnitt, um sowohl den Grad der Korruption zu reduzieren als auch entsprechende Kontrollen aufzubauen. Bis von einer effektiven Regierungsführung und von Rechtstaatlichkeit gesprochen werden konnte, dauerte es bei den 20 schnellsten fragilen Staaten sogar 36 bzw. 41 Jahre.
Quelle: World Bank (2011: 109), zusammengefasst nach Pritchett and de Weijer (2010: 10-13)
Anmerkung: IRCG = International Country Risk Guide; WGI = World Governance Indicators
Welche Grundaussagen können aus dieser Analyse gezogen werden:
- Fragile Staaten sind weit vom jeweiligen Schwellenwert entfernt, der Voraussetzung für eine „gute Regierungsführung“ ist.
- Selbst bei einer sehr optimistischen Entwicklung wird die Zeit von fragilen Staaten bis zum Erreichen eines soliden Niveaus der Regierungsführung in Jahrzehnten, nicht in Jahren zu messen sein.
An diesen generellen Aussagen hat sich bis heute nichts geändert. Trotzdem haben sich die USA, letztlich aus innenpolitischen Gründen, und damit die NATO insgesamt dazu entschlossen, das Militär in Afghanistan nach 20 Jahren vom Boden abzuziehen. Zumindest kurz- bis mittelfristig bedeutet dies auch die Aussetzung der staatlichen bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit, denn das „Islamische Emirat Afghanistan“ ist kein anerkannter Staat. Inwieweit die humanitäre Hilfe die derzeit etwa 18 Millionen Afghanen erreichen kann, die aufgrund von Missernten auf Hilfe angewiesen sind, ist unklar.
Der Weltentwicklungsbericht (World Bank 2011: 200f) erklärt dies so: Internationale Akteure wissen, dass ein schnelles Engagement, langfristige Verpflichtungen und die Unterstützung nationaler Institutionen von zentraler Bedeutung sind, um Fragilität und wiederholte Zyklen der Gewalt zu verhindern. Der Grund, weshalb das internationale Engagement in fragilen Staaten oft zu kurz greift, läge im "doppelten Dilemma der doppelten Rechenschaftspflicht". Internationale Akteure, ob bilateral oder multilateral, sind erstens gegenüber ihren Bürgern und Bürgerinnen oder bei multilateralen Organisationen gegenüber ihren Mitgliedsländern und erst in zweiter Linie gegenüber den ausländischen Regierungspartnern oder deren Bürger und Bürgerinnen in der Rechenschaftspflicht. Insofern wiegen die Risiken des Handelns und des Engagements mit schwachen Partnern innenpolitisch schwerer als die Kosten, die mit den Risiken der Untätigkeit einhergehen oder des Ausbleibens langfristiger Ergebnisse beim Aufbau von Institutionen, für letzteres muss weniger Rechenschaft abgelegt werden.
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