Polarisierte Debatten: Was soll Journalismus leisten?
24 Juli 2023
Was soll Journalismus angesichts aufgeheizter Diskussionen und verhärteter Fronten bei polarisierenden Themen wie Klima-Aktivismus, LGBTQ, Flucht und Migration oder Geschlechtergerechtigkeit leisten? Dieser Frage ging die Podiumsdiskussion des zem:dg (Zentrum für digitale Medienethik) „Polarisierte Debatten. Was kann Journalismus leisten“ am 12. Juni nach. Die Veranstaltung bot eine Plattform für eine spannende Diskussion über die Rolle des Journalismus angesichts kontroverser Themen und den damit verbundenen Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Professorin Dr. Sonja Kretzschmar von der Universität der Bundeswehr München moderierte die Diskussion und verwies dabei auf die Relevanz, die eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Themen hat. Diese wurde auch in den Statements der Expert:innen auf dem Podium deutlich spürbar. Hier trafen nicht nur unterschiedliche Fachbereiche, sondern auch verschiedene Erfahrungswelten aufeinander.
Vielfalt im Diskurs als Chance
Dass gerade eine solche Vielfalt im Diskurs auch eine Chance sein kann, erklärte Professorin Dr. Annika Sehl von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt in ihrem Eingangsstatement: „Die ideologische Polarisierung ist ein grundlegender Bestandteil pluralistischer demokratischer Systeme.“ In diesem Sinne sei für sie ein lebendiger Meinungsaustausch in einer demokratischen Gesellschaft sinnvoll und notwendig. Allerdings könnten mit ihr auch negative Effekte einhergehen. „Normativ problematisch dagegen ist die affektive Polarisierung. Diese beschreibt eine zunehmende Abneigung gegenüber Personen oder Personengruppen, die andere Positionen vertreten“, erläuterte die Kommunikationswissenschaftlerin. Dies könne als Herausforderung für den Journalismus gewertet werden. So ermögliche dieser einerseits Zugang zu verschiedenen Positionen in Debatten und fördere damit im idealen Fall die demokratische Meinungs- und Willensbildung. Doch ein zu starker Fokus auf entsprechende Konflikte und Spannungen könne auch eine weitere Polarisierung im Publikum begünstigen. Was bedeutet dies für die journalistische Praxis? Sehl empfiehlt in solchen Fällen über eine lediglich neutral darstellende Berichterstattung hinauszugehen: „Gerade bei sehr komplexen Themen scheint es geboten, die vorliegenden Informationen und Positionen stärker kontextuell einzuordnen, zu bewerten und zu interpretieren.“
Basiskompetenz in polarisierten Debatten: Psychologie der Verständigung
Für einen primär vermittelnden Ansatz setzte sich auch die Psychologin Professorin Dr. Elisabeth Kals von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ein. Sie betonte, dass in konfliktreichen Diskurssituationen der erste Schritt zur Deeskalation erst einmal sei, zuzuhören und wertzuschätzen, was der Andere denn überhaupt zu sagen habe und dies zu verstehen. Dies sei uns eigentlich allen bewusst. Dennoch sei dies im Alltag nicht immer so einfach umzusetzen: „Wir verletzten die Regeln der Interaktionsgerechtigkeit am meisten im Konflikt. Und zwar insbesondere dann, wenn Konflikte auf dem Erleben von Ungerechtigkeit basieren, denn alle Parteien fühlen sich im Recht.“ Dieses pluralistische Gerechtigkeitserleben zu durchschauen, sei eine wichtige Aufgabe in polarisierten Debatten. Sie setzt sich deshalb für eine breite Vermittlung zentraler Kompetenzen der gegenseitigen Verständigung ein: „Es wäre hochinnovativ, Mediationskompetenzen, eine Psychologie der Verständigung, als Basiskompetenz in der Gesellschaft zu verbreiten.“ Dies ist zentrales Ziel des dtec-bw-Projekts „Konflikt und Kommunikation“ (Koko), an dem Prof. Dr. Kals, Prof. Dr. Sehl und Prof. Dr. Kretzschmar beteiligt sind.
Dysfunktionaler Journalismus?
Gerade an diesem Punkt sieht die Medienethikerin Professorin Dr. Claudia Paganini von der Hochschule für Philosophie im derzeitigen Journalismus ein Problem. Es sei die Aufgabe des Journalismus, der Gesellschaft genügend Informationen für das Funktionieren einer demokratischen Öffentlichkeit – eines Diskurses – zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich erlebe sie den Journalismus mit Blick auf den Klimaaktivismus als dysfunktional: „Der aktuelle Zustand im Umgang mit der Letzten Generation ist inakzeptabel in einer Gesellschaft, in der wir ein inklusives Verständnis von Gerechtigkeit und von Frieden haben. Hier wäre es speziell Aufgabe der Presse, Hassrede und Diffamierungen aktiv entgegenzuwirken“, erklärte sie.
Gereizte Debatte
Ihrer Einschätzung schloss sich Vincent Schäfer, Philosophiestudent und Klimaaktivist, an. Er erlebt die Debatte um die „Letzte Generation“, der er angehört, sowohl medial als auch gesellschaftlich als äußerst gereizt. Die Aktionen der „Letzten Generation“ polarisieren, was jedoch auch das Ziel der Aktivist:innen sei, wie er erläutert: „Die Letzte Generation sorgt mit ihrem nervigen und unignorierbaren Protest für eine Spannung, die sich nicht einfach auflösen lässt, indem hehre Ziele für die ferne Zukunft formuliert werden. Ja, unsere Aktionen polarisieren. Aber genau dadurch bringen sie zum Ausdruck, wie katastrophal unser gegenwärtiger klimapolitischer Kurs ist.“
Journalismus als Balance-Akt
Dr. Marco Bertolaso, Nachrichtenchef des Deuschlandfunks, sieht in den vielfältigen Anforderungen, die an den Journalismus herangetragen werden, jedoch ein Problem. Zunehmend würde, von vielfältigen Interessensgruppen – nicht nur aus dem Bereich des Klima-Aktivismus – von den Medien verlangt, Farbe zu bekennen. Dies erfordere einen sensiblen Balance-Akt: „Ich glaube, dass die Medien, die sich für einen Erhalt des freiheitlich-demokratischen rechtstaatlichen Systems einsetzen (sollen), dass die sich in einer prekären Randständigkeit befinden: Einerseits sollen sie das System stabilisieren, andererseits dürfen sie jedoch nicht Teil des Systems werden.“ Außerdem muss differenziert werden: Vorwürfe an „die Medien“ müssten hier genauer benannt werden, denn nicht alle Medien berichten im gleichen Umfang und auf dieselbe Art und Weise.“
Insgesamt verfolgten rund 60 interessierte Gäste, darunter auch viele Studierende der Universität der Bundeswehr (hier aus der Lehrveranstaltung „Medienethik“, Fakultät Betriebswirtschaft), der Hochschule für Philosophie und der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt die Podiumsdiskussion und beteiligten sich nach Öffnung des Gesprächs für das Publikum rege an der Debatte. Die Veranstaltung bewies damit eindrücklich: Meinungsvielfalt muss nicht negativ sein – im Gegenteil kann sie zu einer Öffnung der Perspektiven führen und ein reges, lebendiges Miteinander zur Folge haben. Die Veranstaltung bot beispielhaft einen Raum, in dem verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Positionen stellvertretend für die verschiedenen Pole in der Gesellschaft ins Gespräch kommen konnten; dies wurde sowohl von den Teilnehmenden auf dem Podium und als auch im Plenum begrüßt.
Fotocredit: HFPH/ K. Kleiß