Den ständigen Wandel verstehen
28 Juni 2019
Mit der Anwendung der Theorie dynamischer Systeme in der Persönlichkeitspsychologie befasste sich in ihrem Vortrag Joanna Sosnowska, die das Institut für Psychologie am 19. Juni besucht hat.
Die Frühjahrstrimester-Reihe des Psychologischen Kolloquiums an der Universität der Bundeswehr München klang mit einem prägnanten Beitrag von Joanna Sosnowska aus. Die junge Forscherin, die an der Freien Universität Brüssel promoviert hat, beschäftigt sich mit dem Einfluss von dynamischen Prozessen der Persönlichkeit im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie und greift dabei auch auf ihre Berufserfahrung im Consulting zurück. In ihrem Vortrag „The only constant in life is change’ – the dynamic systems approach in personality and social psychology“ plädierte Joanna Sosnowska für eine dynamische Perspektive auf Persönlichkeit, Erleben und Verhalten, die über traditionelle Persönlichkeitsmodelle hinaus reicht.
Dynamische Systeme: Eine Lektion aus der Natur
Zum Einstieg ins Thema zeigte die Forscherin den Zuhörenden ein Video. Ein großer Vogelschwarm fliegt in einer sich ständig ändernden Formation über einem Feld, dabei lassen sich weder die Strukturänderungen der Formation noch die Flugrichtung genau voraussagen. Die Formationsflüge der Vögel sind nur einer der zahlreichen Beispiele aus der Natur, neben etwa den Ameisenkolonien oder der Zellstruktur, an denen sich ein zentrales Prinzip der Theorie dynamischer Systeme erklären lässt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
In der Psychologie wird die Theorie dynamischer Systeme bisher in erster Linie in der Untersuchung der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen sowie auch in der Analyse von Gruppendynamiken in der Sozial- und Sportpsychologie Anwendung. Joanna Sosonowska argumentierte, dass Berücksichtigung der Theorie dynamischer Systeme in die Persönlichkeitspsychologie einen signifikanten Beitrag zur Erfassung der Komplexität des menschlichen Verhaltens leisten kann. Traditionelle Persönlichkeitsmodelle, die in erster Linie durchschnittliche Regelmäßigkeiten im Erleben und Verhalten in den Mittelpunkt stellen, berücksichtigen kaum die Dynamiken und die Abweichungen von diesem Durchschnitt, die eine Person dazu bringen können, untypisch zu handeln. So kann sich eine Person, die als „im Allgemeinen“ introvertiert charakterisiert wird, selbstverständlich immer auch von diesem durchschnittlichen Trend abweichen und sich extravertiert verhalten, z.B. wenn sie neue soziale oder berufliche Kontakte knüpfen will.
Die Persönlichkeit soll in ihrer Komplexität betrachtet werden
In der Beurteilung von potentiellen Arbeitnehmenden werden aktuell überwiegend traditionelle Persönlichkeitsmodelle verwendet. Hinzu kommen auch Vorurteile über „erwünschte“ oder „unerwünschte“ Eigenschaften der perfekten Jobkandidierenden. Dies führt zu einer einseitigen Beurteilung von Bewerberinnen und Bewerbern, die im Auswahlprozess sowie auch nach der Einstellung in mehreren benachteiligenden Konsequenzen resultieren kann.
Um die Dynamik des Erlebens und Verhaktens adäquat erfassen zu können, plädiert Joanna Sosnowska für einen bottom-up approach, d.h. die Erfassung von vielen aktuellen Erlebens- und Verhaltensweisen (states) im Rahmen eines Experience Samplings. Die dabei erfassten Daten ermöglichen dann sowohl die Analyse des durchschnittlichen Erlebens und Verhaltens (traditioneller Ansatz) als auch der Dynamiken und Variabilität über die Zeit in Abhängigkeit von externen und internen Bedingungen. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist das Konzept der Attraktorstärke, in dem die Geschwindigkeit zum Ausdruck gebracht wird, mit der eine Person zu ihrem durchschnittlichen Erleben und Verhaltensniveau zurückkehrt, nachdem sie davon mehr oder weniger stark abgewichen ist.
Text: Olga Lantukhova; Bild, v. li. n. re.: Joanna Sosnowska, Prof. Karl-Heinz Renner; Aufnahme: Olga Lantukhova