Am Puls des Alltags messen. Herzlichen Glückwunsch, Dr. Irma Talic!
24 Juli 2023
Am 29. Juni 2023 hat die Disputation von Irma Talic, Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik am Institut für Psychologie, stattgefunden. In ihrer kumulativen Promotion untersuchte sie Dynamiken akademischer Erfahrungen im Alltagsleben von Schülerinnen und Schülern.
„No man ever steps in the same river twice, for it’s not the same river and he’s not the same man.” Mit diesem berühmten Zitat von Heraklit eröffnete Irma Talic ihren englischsprachigen Disputationsvortrag, der von dem ständigen Wandel des Erlebens, der Wahrnehmung und verschiedener Situationen im Unterricht in deutschen Gymnasien handelte.
Momentaufnahmen des Schulalltags
In der psychologischen Forschung werden viele Konstrukte als stabile Zustände auf der Trait-Ebene behandelt. Diese Herangehensweise führt dazu, dass intraindividuelle Unterschiede – d.h. Veränderungen innerhalb von Personen über die Zeit – nicht berücksichtigt werden. Irma Talic befasste sich mit akademischen Prozessen an der Schule und mit ihrer Wahrnehmung durch Schülerinnen und Schüler, indem sie Messungen „in Echtzeit und im echten Leben“ mittels Experience Sampling durchführte. An den fünfwöchigen Erhebungen nahmen insgesamt 372 Sekundarschülerinnen und -schüler der 9. und 10. Klassen im Durchschnittsalter von 15 Jahren teil. Das Experience Sampling, also die wiederholte Erfassung momentaner Zustände oder States fand mithilfe der App movisensXS statt, sodass bis zu 42 Messzeitpunkte pro Person in Lehrveranstaltungen in den Fächern Mathematik, Physik, Deutsch und Englisch erfasst werden konnten. Die Dissertation fokussierte auf zwei zentrale Aspekte: Prüfungsängstlichkeit (d.h., die Besorgtheit über Versagen und körperliche Aufgeregtheit in Prüfungssituationen) und Wahrnehmungen von Lehrqualität (in dem Modell der drei Basisdimensionen Unterstützung durch die Lehrkraft, kognitive Aktivierung und Klassenführung)
Schlussfolgerungen für Lernende und Lehrende
In der Dissertation wurden verschiedene Arten von Messung und struktureller Modellierung dieser Konstrukte dargestellt und verglichen. Prüfungsängstlichkeit wurde in einem sogenannten genesteten Faktormodell modelliert, sodass zwischen der generellen und der domänenspezifischen Prüfungsängstlichkeit unterschieden werden konnte. So konnte die Beziehung zwischen Noten und Prüfungsängstlichkeit neu betrachtet werden. Ein tieferes Verständnis von diesen Unterschieden ermöglicht zum Beispiel zielgerichtetere, effizientere Interventionen zur Behandlung von Prüfungsängstlichkeit.
Bei Wahrnehmungen von Lehrqualität aus Sicht der Schülerinnen und Schüler ergab sich eine große Varianz sowohl innerhalb von Personen über die Zeit hinweg, als auch zwischen Personen. So konnten zwei Personen, die sich in der gleichen Klasse und in der gleichen Unterrichtsstunde befanden, zur gleichen Zeit die Unterstützung durch die (gleiche) Lehrkraft völlig unterschiedlich bewerten. Unterschiede in wahrgenommener Lehrqualität können also sowohl auf die Situation, als auch auf die bewertende Person (und ihre Persönlichkeitsdimensionen) relativiert werden. Für die Lehrerausbildung folgen daraus Anregungen zu mehr Flexibilität in der Unterrichtsgestaltung und -bewertung.
Die Studien von Irma Talic bereichern das Verständnis struktureller Repräsentation zentraler Konstrukte der Bildungsforschung sowie derer Implikationen. Zum Abschluss bemerkte die Forscherin: Die Experience Sampling Methode ermöglicht eine Vielzahl weiterer Untersuchungen am Puls des Alltags, wie etwa State--Trait-Erfassungen von Lehrkräften, interaktives Assessment und Interventionen, oder personenzentrierte Forschung.
Text: Olga Lantukhova, Irma Talic; Bild, v. li. n. R.: Dr. Christoph Niepel, Dr. Irma Talic, Prof. Karl-Heinz Renner. Aufnahme: Olga Lantukhova