Im ersten Teil des Forschungsprojekts (A) wurde die Vielfalt regionaler Rechtsordnungen in der Zeit vor dem imperialen Vordringen des europäischen Völkerrechts (Ius Publicum Europaeum) untersucht – mit einem Schwerpunkt auf Afrika südlich der Sahara, Süd- und Südostasien. Insbesondere für Afrika lässt sich belegen, dass ein von der europäischen Ordnung vollkommen unberührtes „Intergruppenrecht“ bestand, das in Ermangelung einer Schriftkultur gewohnheitsrechtlich galt und dessen Inhalte aus dem gleichen Grund heute nur noch punktuell bekannt sind. Diesen außereuropäischen „internationalen“ Rechtsordnungen war das Konzept von Staat und Souveränität fremd, sie waren personal eher denn territorial konzipiert, Gebiet war lediglich Substrat mit Kontaktbereichen, aber ohne klare Grenzen. Für die untersuchten Gebiete Asiens gilt dieser Befund nur eingeschränkt, zumal diese Entitäten in intensiverem Kontakt mit europäischen Mächten standen. Der post-westfälische, zunehmend imperiale Kolonialismus setzte hier 50 bis 100 Jahre früher ein als in Afrika. Trotz der andersartigen Gesellschafts- und Herrschaftskonzepte lassen sich für Asien, aber auch Afrika den europäischen Rechtsprinzipien wie pacta sunt servanda, clausula rebus sic stantibus, diplomatische Immunität oder Regeln des Kriegs- und Friedensrechts entsprechende Regeln nachweisen. Für die verbreitete These vom Bestehen einer einheitlichen, vorkolonialen Völkerrechtsordnung aber gibt es keine Grundlage: Das Europäische Völkerrecht ist wie andere regionale Ordnungen als eine Art Clubsatzung anzusehen, deren Wirkungsbereich und Partizipationsrahmen limitiert waren. Für das vorkoloniale Afrika lassen sich ebenso wie für Süd- und Südostasien Kontakte zu den Europäern nachweisen, die sich vor allem auf Handelsbeziehungen ohne politische Einflussnahme der Europäer erstreckten. Verträge, die gelegentlich geschlossen wurden, lassen sich nicht als eine – auch nicht intendierte – Einbeziehung des Vertragspartners in das jeweilige Rechtssystem deuten; es herrschte Pragmatismus vor. Wie diese Verträge rechtlich zuzuordnen sind, wurde ebenfalls untersucht; am überzeugendsten erscheint ein „bifokaler“ Ansatz.
Marc Frey und Clara Kemme konzentrierten sich im Rahmen des Teilprojekts A insbesondere auf Indien und Indonesien. Im Zentrum der Forschung standen dabei Inhalts-, Funktions- und Kontextanalysen von Vertragsbeziehungen. Wesentlich erschien eine Gewichtung von Kontinuität und Wandel.
Die Herrschaftsstrukturen waren in Süd- und Südostasien nicht strikt territorial verankert. In Südostasien bestanden sie eher aus einem Geflecht von Gefolgschaftsbeziehungen (häufig, aber nicht unumstritten als Mandala charakterisiert). Zentralisierte Bürokratien waren nur vereinzelt anzutreffen. Politische Herrschaft war informell, personal und religiös fundiert. In Südasien sorgte die Expansion des Mogulreiches für eine gewisse Bürokratisierung. Der Agrarstaat beruhte auf der Erhebung von Grundsteuern, was eine territoriale Einteilung des Reiches voraussetzte (fiscal military state). Trotzdem war es eine patrimoniale Bürokratie, die sich auf erweiterte persönliche Loyalitäten stützte. Der persönliche Kult des Großmoguls war sehr ausgeprägt. Provinzgouverneure bzw. lokale Herrscher standen im Tributverhältnis zum Großmogul. Gemeinsam war den Herrschaften in Süd- und Südostasien, dass sie Rechtsnormen besaßen und durchsetzten.
Dabei handelte es sich primär um Gewohnheitsrecht, das sich mit intragemeinschaftlichen Beziehungen beschäftigte. Die Systeme des Austausches zwischen den Machtzentren waren hierarchisch konfiguriert. Herrschaften ordneten sich mächtigeren Machtzentren unter und erlangten dadurch Schutz, Stabilität und Legitimation. In den Peripherien schwächte die Macht des Zentrums ab. In Südostasien wurde die politische Verbundenheit umso transzendenter, je weiter die Herrschaften vom Zentrum entfernt lagen. Es gab in der Peripherie kaum noch territorial-institutionelle Verknüpfungen. Hier konnten sich Einflussbereiche überlappen. Sowohl in Indien als auch in Indonesien drückten Tributzahlungen und der Austausch von (symbolischen) Geschenken aus, welche Beziehung zwei Herrschaften zueinander hatten. Umfangreiche Zeremonien unterstrichen den rituellen Charakter der Beziehungen. Briefe, die zwischen Machthabern ausgetauscht wurden, hatten einen außerordentlichen Wert, weil sie das persönliche Ansehen des Signatars übermittelten. Eine schriftliche Vertragskultur gab es nicht, Allianzen und andere Übereinkünfte wurden in Zeremonien eingebettet und durch Schwüre und Eide bestätigt. Die meisten Angelegenheiten wurden über einseitige Zugeständnisse reguliert, die personengebunden waren. Der Austausch von Gesandten war etabliert und in der Regel auch normiert; ständige Gesandtschaften gab es nicht. Ideologisch wurden diese Systeme untermauert durch Normen, die von den großen Religionen ausgingen. Islam und Hinduismus bestimmten in Süd- und Südostasien, wie die Weltordnung verstanden und eingerichtet wurde. Religiös fundiert waren beispielsweise Normen in Kriegszeiten und zur Herstellung von Frieden. Gerade der Islam bot die Grundlage für eine überregionale Ordnung, die den Austausch zwischen institutionellen Akteuren förderte. Die Kohäsion war jedoch nie so stark, dass sie einen Austausch mit anderen normativen Ordnungen verhinderte. Das Tributsystem erlaubte es, dass jede Beziehung neu verhandelt und flexibel eingerichtet werden konnte.
Die Europäer ordneten sich in diese Machtstrukturen ein und partizipierten nicht nur an Ritualen, sondern übernahmen sie zum Teil. Sie beteiligten sich an Zeremonien, tauschten Geschenke und traten als Tributäre auf. Die Europäer versuchten, die Beziehungen jedoch stets in ihrem eigenen Rechtskontext zu formalisieren, indem sie schriftliche Verträge verlangten. In Indien glückte dies bis zu den 1730er Jahren selten, sie erhielten ihre Rechte nur über einseitige Zugeständnisse. Als das Mogulreich allmählich auseinanderfiel und die Rivalitäten zwischen den indischen Herrschaften an Dynamik zunahmen, konnte die Britische Ostindien Kompanie dies ausnutzen und reziproke Militärbündnisse schließen. In Südostasien kombinierte die Niederländische Ostindische Kompanie solche Allianzen mit Klauseln zur Sicherung ihres Handelsmonopols.
Sukzessive und zum Teil über sehr lange Zeiträume hinweg entwickelten sich diese Verträge für die Kolonialverwalter immer mehr zu einem Instrument europäischer territorialer Machtausbreitung. Systematisch wurde nun lokalen Herrschaften die Interaktion mit anderen europäischen Mächten untersagt. Gleiches galt aber auch für den Kontakt zwischen einheimischen Herrschaften, bis ihnen schließlich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts ihre ‚äußere Souveränität‘ genommen wurde. Damit wurden die regionalen intergemeinschaftlichen Ordnungen und insbesondere das Tributärsystem zerstört. In beiden Regionen – Indien und Indonesien – sicherten sich die Europäer von Anfang an extraterritoriale Rechte, die die Autorität der traditionellen Herrscher untergruben. In Indien erhielten diese zwar Zusicherungen, dass die Briten sich nicht in ihren internen Angelegenheiten einmischen würden, doch wurden diese Zusagen im 19. Jahrhundert nicht mehr honoriert. So wie die Niederländer begründete die East India Company die direkte Einflussnahme mit einer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit. Die wachsende Machtdisparität sorgte auch für eine materielle Ungleichheit der Verträge.
Viele Verträge wurden aus persönlichen und strategischen Gründen freiwillig unterzeichnet. Die Androhung und Ausübung von Gewalt waren konstitutives Mittel der Politik der beiden Handelsgesellschaften. Außerdem gelang es ihnen, die lokalen Eliten an sich zu binden und sie von ihrer traditionellen Machtbasis zu entkoppeln. Auf beiden Seiten gab es großes Misstrauen, ob Verträge auch eingehalten würden; das Prinzip pacta sunt servanda galt jedoch grundsätzlich überall. Beide Parteien beriefen sich regelmäßig auf Verträge, um ihre Rechte zu begründen. In Indien begannen Herrscher im 19. Jahrhundert auch andere Prinzipien des europäischen Völkerrechts zu benennen. Indigene Herrscher in Niederländisch Indien taten dies nicht.
Die Verträge dienten der Legitimierung gegenüber den Indigenen und gegenüber anderen europäischen Mächten. Für letztere war es deswegen wichtig, dass die Verträge als völkerrechtliche Instrumente anerkannt wurden. In der Praxis wurden indigene Herrschaften zunächst als souverän anerkannt. Im 19. Jahrhundert verloren die Verträge ihren völkerrechtlichen Charakter, weil die Europäer lokalen Herrschaften de facto ihre innere und äußere Unabhängigkeit absprachen. Verträge zwischen Europäern und einheimischen Herrschern schlossen die Persistenz einheimischer funktional äquivalenter Rechtsordnungen jedoch nicht aus. Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert bestanden diese in Indien und Indonesien fort, bis die jeweiligen Kolonialverwaltungen indigene Normen aktiv unterdrückten. Trotzdem behielten die lokalen Herrscher überall Residuen ihrer Herrschaftsmacht (indirekte Herrschaft). Die Verträge sicherten oft eine zweigeteilte Gerichtsbarkeit für die Europäer einerseits und die Indigenen andererseits. Das indigene Recht wurde jedoch stark umgeformt durch europäische Interpretation und Intervention. Das allgemeine Narrativ der Völkerrechtsgeschichte ist, dass im neunzehnten Jahrhundert Souveränität die absolute Herrschaftsmacht über ein Territorium bedeutete. In der kolonialen Praxis war Souveränität bis ins frühe 20. Jahrhundert geschichtet und bei mehreren Trägern angesiedelt.
Der zweite Teil (B) widmete sich dem Vordringen des Europäischen Völkerrechts und dem Systemkonflikt, der durch Verdrängung der „indigenen“ Ordnungen ausgetragen wird. Im Laufe des 19. Jahrhunderts, als die europäischen Handelsgesellschaften Gebiete im Landesinneren erwarben und Einfluss gewannen, wandelte sich mit der imperialen Strategie auch die Perzeption der Europäer: Das Ius Publicum Europaeum galt weiterhin exklusiv für seine Partizipanten, aber es erhob nun auch den Anspruch, weltumspannend exklusiv und damit exklusionistisch zu gelten. Im Rahmen des Projekts wurde Legitimationsversuchen nachgegangen: Indigene Gemeinschaften wurden u.a. wegen ihres vom europäischen territorial fixierten Herrschaftsmodell abweichenden personalen Herrschaftskonzeptes als „unzivilisiert“ von der Rechtserzeugung ausgeschlossen. Ein maßgebliches Instrument des Gebietserwerbs und der Einflussnahme waren die nunmehr sogar zahlreichen Verträge, die mit den indigenen Gemeinschaften abgeschlossen wurden, obwohl die Europäer letztere nicht als ebenbürtige Vertragspartner ansahen. Sie förderten die wirtschaftlichen Ziele der Europäer, legitimierten ihre Gebietserwerbungen gegenüber anderen europäischen Mächten und sollten den Widerstand der indigenen Gemeinschaften gegen die wachsende Einflussnahme der europäischen Vertragsseite vermeiden. Welchem Recht diese Verträge unterlagen und ob sie überhaupt Bindungskraft entfalten sollten, muss letztlich offen bleiben; die zeitgenössischen Rechtslehrer sprachen ihnen teils jede Wirkung ab. Mit der Machtübernahme banden die Kolonialmächte die bisherigen Machthaber teilweise in die Kolonialadministration ein, ordneten die Gemeinschaften jedoch unter Verdrängung traditioneller Institutionen und zwischengemeinschaftlicher Rechtsstrukturen ihrer Kolonialherrschaft unter, wie für unterschiedliche Kolonialmächte nachgezeichnet wurde. Die Errichtung fester Grenzen nach europäischem Muster schwächte die personal begründeten Herrschaftsordnungen auch faktisch und durchschnitt Kontaktzonen. Spannungen wurden verschärft und der Grund für heutige – territorialisierte – Konflikte zwischen ehemaligen Kolonialgebieten gelegt. Für die indonesischen Gemeinschaften unter der Kolonialherrschaft der Ostindien-Kompanie und der Niederlande konnte Ähnliches festgestellt werden. Ein veritables Kolonialvölkerrecht bildete sich aus diesem Universalisierungsprozesses nicht heraus. Die Konkurrenz der Kolonialmächte führte lediglich zur Konkretisierung des schon auf der Berliner Kongokonferenz für den Gebietserwerb vorausgesetzten, aber noch vagen Effektivitätskriteriums, wie es auch dem heutigen Völkerrecht noch zugrunde liegt. Dieses Grundmuster überlebte auch den Ersten Weltkrieg noch. Der in der Völkerbundsatzung angelegte, weitgehend auf den Verlierermächten abgerungene Mandatsgebiete beschränkte Unabhängigkeitsprozess bemäntelt lediglich den Fortbestand imperialer Interessen der Siegerstaaten.
Die Folgen des Kolonialismus für die Jetztzeit wurden im dritten Teil (C) analysiert. Die nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Ägide der Vereinten Nationen erfolgende Dekolonisierung ist – so der zentrale Befund des Projektes – äußerst ambivalent, weil mit ihr zugleich die Durchsetzung des Europäischen Völkerrechts als der von den Kolonialmächten geschaffenen Ordnung als weitweite und alleinige Ordnung besiegelt wird. Damit erwächst ein „postkoloniales Paradoxon“: Den ehemals Kolonisierten blieb keine andere Möglichkeit, als diejenige Völkerrechtsordnung, die sie bisher unterdrückt hatte und ihre zwischengemeinschaftlichen Ordnungen verdrängt hatte, anzunehmen. Dies schließt implizit auch die Anerkennung der Legitimität ihrer Genese, also auch der rechtlichen Grundlagen kolonialer Repression, ein.
Dieser Befund erklärt zu einem erheblichen Teil die – im Rahmen des Projekts betrachteten – internationalen Konflikte zwischen ehemals kolonisierten Entitäten und zwischen diesen und ehemaligen Kolonialmächten. Im Rahmen des Projekts wurde der Frage nachgegangen, wie diese Konflikte gelöst oder ihre Ursachen zumindest gemildert werden können. Da eine Rückkehr zu einem präkolonialen, multipolaren Muster rechtlicher Ordnungen ebenso unerwünscht wie undurchführbar ist, muss ein Weg im Rahmen des universellen, aber doch „eurogenen“ Völkerrechts gefunden werden. Was Konflikte zwischen ehemaligen Kolonien und ehemaligen Kolonialherrn betrifft, besteht eine Hürde darin, dass im Lichte des völkerrechtlichen Prinzip tempus regit actum, dessen Maßgeblichkeit im Projekt ausführlich dargelegt wird, weder die koloniale Unterwerfung noch Handlungen der Kolonialmächte, auch Kolonialkriege, ohne weiteres als verboten angesehen werden können. Humanitäres Völkerrecht, seinerzeit erst in der Entstehung, galt nur für Europa, menschenrechtliche Kodifikationen entstanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg und können daher nur für einen Teil kolonialer Konflikte – wie den im Rahmen des Projekts behandelten Mau-Mau-Aufstand – Wege zur Lösung weisen. Aus den Untersuchungen ergibt sich, dass einzelnen Kolonialvölkern bzw. Individuen und den von ihnen heute konstituierten souveränen Staaten in der Regel kein Schadensersatzanspruch gegen die ehemaligen Kolonialmächte zusteht. Anderweitige Kompensationsmechanismen, im Rahmen der völkerrechtlichen Regelungen der Staatensukzession und der WTO, zeitigen nur geringfügige Wirkungen. Inspiration könnten dem Völkerrecht gegebenenfalls verfassungsrechtliche Konfliktlösungsmodellen von Staaten mit einem binnenkolonialen Erbe einhauchen, unter denen exemplarisch Kanada und Neuseeland angeführt wurden. Beide Staaten haben Konflikte durch Anerkennung indigenen Rechts als vorbestehenden, nicht von staatlicher Herrschaft ableitbaren Rechts und Aufwertung indigener Völker (Maori, Indian First Nations) zu souveränitätskonstitutiven Akteuren zumindest zum Teil überwunden. Zwar besteht kaum noch nichteuropäisches „Intergruppenrecht“, dem das Völkerrecht erstens Schutz und zweitens Gleichrang zuerkennen könnte und wollte, doch könnte das völkerrechtliche Bewusstsein für die historische Legitimität nicht-europäischer „internationaler“ Ordnungen als Grundlage pragmatischer Ausgleichslösungen gestärkt werden. Dies gilt auch in personaler Hinsicht. Die völkerrechtlichen Regeln zum Schutz indigener Völker markieren nur scheinbar einen Paradigmenwandel, da sie erstens auf staatlich-souveräner Entscheidung beruhen und die Völker nicht zu Völkerrechtsakteuren erheben und zweitens nur für Völker bedeutsam sind, die in der Jetztzeit als indigen betrachtet werden, aber nicht für die mehrheitlich zu Staatsvölkern gewordenen ehemaligen Kolonialbevölkerungen. Die Beispiele Kanadas und Neuseelands zeigen jedoch, dass es möglich ist, als Quelle staatlicher Souveränität im Sinne des geltenden universellen Völkerrechts auch vorkoloniale, nicht-europäische Herrschaft anzusehen. Dieser staatsinterne Perzeptionswandel bindet die Völkerrechtsgemeinschaft nicht und zeitigt auch keine unmittelbaren Rechtsfolgen, kann jedoch für die rechtspolitisch bedeutsame Erkenntnis, dass die Legitimität des Europäischen Völkerrechts, historisch betrachtet, nur eine relative ist, hilfreich sein.