Danach ist nur Schweigen. Wissenschaft im Dienst des Nationalmythos

12 Februar 2021

Prof. Timothy Williams & Alina Scheitza , FZ RISK, Universität der Bundeswehr München

Die polnische Regierung und andere rechtskonservative und populistische Akteure versuchen seit einigen Jahren zunehmend die Freiheit der Wissenschaft juristisch zu beschränken. Ein am 9.2.21 gefallenes Urteil im Prozess gegen zwei Wissenschaftler*innen, Barbara Engelking und Jan Grabowski, fiel zwar weniger gewichtig aus als erwartet, weist aber auf die neue Politisierung der Vergangenheit und der Nutzung juristischer Instrumente zur Durchsetzung von Geschichtsverständnissen hin.

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Am 9.2.2021 wurde in einem kontroversen Zivilprozess in Polen ein Urteil gegen zwei zum Thema Holocaust forschenden Wissenschaftler*innen gesprochen. Dieser Prozess gilt als weiterer Schritt in der Politisierung der Vergangenheit nach einem im Januar 2018 erlassenen Gesetz zum Institut des Nationalen Gedenkens. Mit diesem Gesetz hatte die polnische Regierung unter der rechtskonservativen und populistischen PiS Partei ihre Agenda einer geschichtlichen Reinterpretation des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs und eine Simplifizierung der deutsch-polnischen Beziehungen in diesem Kontext vorangetrieben. Dieses Gesetz und andere Maßnahmen haben in den letzten Jahren zu einem restriktiveren gesellschaftlichen Diskurs geführt, bei dem sich bestimmte Themen etabliert haben, über die man nur mit Vorsicht reden oder schreiben darf. Zu diesen historischen Themen gehört die Beteiligung polnischer Staatsbürger an der Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges. Mit diesem Gesetz – von dem sowohl künstlerische als auch wissenschaftliche Tätigkeit ausgeschlossen wurde – sollte die Diskussion über Themen, die den „Schutz der nationalen Identität und des nationalen Stolzes“ angreifen, eingedämmt werden.

Die zentralen Thesen, die zum „Schutz der nationalen Identität und des nationalen Stolzes“ beitragen sollen, stehen hierbei im Zweifelsfall in Konflikt mit Erkenntnissen aus der historischen Forschung. Am bekanntesten ist der Fall des Massakers in Jedwabne, einem Ort im Norden Polens, am 10. Juli 1941. Lange Zeit wurden für dieses Massaker die Gestapo bzw. die SS verantwortlich gemacht. In seinem 2001 erschienenen Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“ legte der polnischstämmiger Historiker Jan Gross offen, dass bei diesem Verbrechen polnische Nachbarn die eigentliche Gewalt ausgeführt haben, während deutsche Einheiten diese gewähren ließen. Die Thesen des Buchs stießen in Polen politische und wissenschaftliche Debatten über Diffamierung und den Schutz des nationalen Stolzes an.

Durch diese Politisierung der Geschichte riskieren alle, die die nun als kontrovers betrachteten Erkenntnisse aus historischer Forschung verteidigen und damit bestimmte Opfer- oder Heldenzuschreibungen infrage stellen, juristische Verfolgung. Nach zahlreichen Protesten von der politischen Opposition, Zivilgesellschaft und Wissenschaft wurde das Gesetz zwar nachträglich abgemildert, aber Zweifel über die Freiheit journalistischer aber auch wissenschaftlicher Arbeit in Polen blieben.

Welche Auswirkung diese Gesetzgebung und Politisierung der Vergangenheit nun tatsächlich hat, kann man in einem Zivilprozess vor einem Warschauer Gericht dieses Jahr beobachten, dessen Urteil am 9.2.2021 gesprochen wurde. Angeklagt waren die Wissenschaftler*innen Barbara Engelking (Zentrums zur Erforschung des Holocaust, IFiS PAN) und Jan Grabowski (University of Ottawa) für Aussagen in lediglich einem Absatz ihrer 2018 erschienenen Studie „Danach ist nur Nacht“ (Original: „Dalej jest noc“), welche sich auf etwa 1600 Seiten den Überlebensstrategien der jüdischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg widmet. Der nun verhandelte Absatz bezieht sich auf Aussagen einer Zeitzeugin, Estera Drogicka (geb. Siemiatycka), die Edward Malinowski einer Schuld für Verbrechen an Juden in seinem Dorf anlastete. Als Nichte dieses Mannes verklagte nun Filomena Leszczynska die Historiker*innen Engelking und Grabowski auf Entschädigung von umgerechnet etwa € 25.000, weil diese Aussagen ihre Rechte, die ehrenhafte Erinnerung an ihren Onkel zu behalten und zu pflegen, verletzte. Starke Kritik an der Publikation wurde schon bei der Veröffentlichung von der polnischen Regierung, dem IPN (Institut des Nationalen Gedenkens) und der regierungsnahen Presse geübt. Das Verfahren gilt insofern als politisch motiviert, da die 80-jährige Klägerin von einer regierungsnahen Organisation „Reduta Dobrego Imienia. Polish League against Defamation“ sowohl finanziell als auch juristisch unterstützt wurde.

Nun wurden Engelking und Grabowski vom Gericht in Warschau dazu verurteilt, sich wegen „Ungenauigkeiten“ in diesem Absatz bei der Klägerin öffentlich und schriftlich zu entschuldigen und den besagten Absatz in einer neuen Auflage des Buches entsprechend abzuändern. Das Urteil mag auf dem ersten Blick eher mild wirken, doch ist es auch als Zeichen zu werten, dass die polnische Justiz gewillt ist, die Wissenschaft in ihrer Freiheit zu beschränken und eine Verstärkung dieser Tendenz ist künftig auch wahrscheinlich. Nach diesem Urteil müssen Wissenschaftler*innen nun mit zivilen Klagen gegen ihre Forschungsergebnisse rechnen, wenn diese dem staatlich verordneten Erinnerungsdiskurs widersprechen. Eine mögliche Verschiebung akademischer Debatten in die Gerichtsäle wird damit wahrscheinlicher und die Deutungshoheit über die Vergangenheit weniger Wissenschaftler*innen als der Politik überlassen werden.

Dieses Urteil zeigt, wie hier Wissenschaft in den Dienst eines nationalen Mythos gestellt wird, der zunehmend unantastbar werden soll und sich einer Konfrontation mit historischen Erkenntnissen entzieht. Hiermit wird eine komplexe und schwierige Vergangenheit geglättet und wichtige historische Lehren gehen verloren. Gleichzeitig nimmt eine solche Aufarbeitung auch den Zeitzeugen ihre Stimme, wenn sie nicht in die klaren Erwartungen des staatlich mandatierten Diskurses passt.