Was hat sich denn in der Gesellschaft seit der letzten Wahl vor fünf Monaten verändert?
Stetter: Drei Faktoren zeichnen sich ab, die auch die größere Wahlbeteiligung erklären. Das eine ist, dass Avigdor Lieberman mit seiner Weigerung, mit den Orthodoxen in eine Regierung zu gehen, massiv Stimmen gewonnen hat. Zweitens gibt es eine gewisse Wählerverschiebung im rechten Lager, eine gewisse Netanjahu-Müdigkeit auch bei seiner Anhängerschaft. Er hat nicht mehr so mobilisieren können wie zuvor. Er war immer ein brillanter Wahlkämpfer. Dieses Charisma ist nun aufgebraucht. Und Drittens waren die arabischen Parteien, die bei der vorherigen Wahl nicht gemeinsam angetreten sind, diesmal mit einer gemeinsamen Liste sehr erfolgreich.
Nach aktuellem Stand hat das Blau-Weiß-Bündnis von Benny Gantz zwei Stimmen mehr als der Likud. Was bedeutet dieser Wahlausgang für den langjährigen Premierminister Benjamin Netanjahu.
Stetter: Die Wahl ist eine große Niederlage für ihn. Er hat diese Wahl gesucht, um sich bestätigen zu lassen und „alles oder nichts“ gespielt, denn er hat ein Gerichtsverfahren vor der Brust. Ihm droht sogar eine Gefängnisstrafe. Deshalb wollte er auch eine eigene Mehrheit haben, damit er sich selbst Immunität verschaffen kann. Damit ist er gescheitert. Netanjahus Wahlziel war, eine eigenständige rechtsnationale Mehrheit mit den religiösen Parteien zu bekommen. Das hat nicht geklappt. Und es hat auch nicht geklappt, dass er stärkste Kraft wird. Das wäre aber voraussichtlich die Voraussetzung dafür, dass Präsident Reuven Rivlin ihn mit der Regierungsbildung beauftragt. Daher ist es eine wirklich starke, dramatische Wahlniederlage für Netanjahu.
Das heißt, es sieht eher nicht nach einer fünften Amtszeit für ihn aus. Muss Netanjahu nun um seinen Platz an der Spitze des Likud bangen?
Stetter: Der Likud ist eine Partei, die in ihrer gesamten Existenz bislang nur vier Vorsitzende gehabt hat. Seit langer Zeit ist das Netanjahu. Das heißt, die Stellung des Vorsitzenden ist nicht etwas, das der Likud traditionell schnell auswechselt. Dazu kommt, dass Netanjahu viele Wahlen für den Likud gewonnen hat und dadurch so etwas wie einen mystischen Status hat. Dieser Status ist jetzt angeknackst. Trotz der Kampagne, die er geführt hat, trotz der Drohungen und der Angst, die er geschürt hat, hat er Stimmen verloren. Es stellt sich die Frage, ob im Likud politische Führungskräfte sind, die daran arbeiten, ihn abzulösen. Wir können davon ausgehen, dass es im Hintergrund diese Überlegungen gibt. Der Likud wird sich dann aber nur langsam von Netanjahu verabschieden.
Ist das also der Anfang vom Ende für Netanjahu?
Stetter: In der Politik kann man sich nie so sicher sein. Netanjahu hat auch noch ein paar Karten in der Hand. Vielleicht versucht er noch die nötigen Mandate für eine Mehrheit zu erreichen. Er könnte beispielsweise jemandem das Außenministerium versprechen. Man kann das nicht ganz ausschließen, aber es ist unwahrscheinlich dass er die nötigen Kooperationspartner findet. Er ist massiv geschwächt. Mit jedem weiteren Tag wird es zunächst versteckt, aber später auch offen Führungsdebatten im Likud geben. Ich würde jetzt noch nicht mein ganzes Geld darauf wetten, dass Netanjahus politische Ära beendet ist, aber doch vorsichtig mal die ersten Geldscheine darauf setzen.
Netanjahu hat sich am Donnerstag für die Bildung einer großen Koalition ausgesprochen. Gäbe es Schnittmengen zwischen den Lagern?
Stetter: Ideologisch sind die Parteien unterschiedlich, aber nicht diametral voneinander entfernt. Blau-Weiß wird zwar immer als Mitte-links-Partei bezeichnet, aber die linken oder die Mitte-links-Parteien in Israel sind massiv geschrumpft. Blau-Weiß ist eigentlich eine Partei der politischen Mitte. Viele ihrer Mitglieder sind ehemalige Likud-Mitglieder, die unter anderem wegen Netanjahu gegangen sind. Die Unterschiede zum Likud sind sicherlich überbrückbar.
Vor welchen Herausforderungen steht die neue Regierung?
Stetter: Einerseits der soziale Ausgleich. Die Lebenshaltungskosten in Israel sind sehr hoch. Andererseits auch der Umgang mit der arabischen oder palästinensischen Minderheit. Ein Fünftel der israelischen Staatsbürger sind Palästinenser beziehungsweise Araber. Da muss es eine politische Öffnung in den nächsten Jahren geben. Und das dritte Thema sind die jüdisch-orthodoxen Parteien. Sie betreiben nicht nur Klientelpolitik, sondern setzen sich zunehmend offensiv dafür ein, den Alltag in Israel jüdisch-religiös zu prägen. Und da gibt es sehr viel Widerstand in der Gesellschaft. Egal welche Regierung kommt, sie wird eine zukunftsfähigen Lösung dafür finden müssen, wie man einen Ausgleich zwischen orthodoxen, säkularen und arabischen Israelis schaffen kann. Die letzten zehn Jahre unter Netanjahu waren von sehr antiliberaler Gesetzgebung geprägt, die das Land weiter gespalten hat. Da ist viel vergiftet worden. Auch hier muss viel repariert werden.
Was bedeutet die Wahl für den Friedensprozess mit den Palästinensern?
Stetter: Für uns in Europa ist der Friedensprozess das zentrale Thema und für die Palästinenser natürlich eine existentielle Frage. Der spielt in Israel innenpolitisch leider nur eine geringe Rolle – obwohl er für Israel nicht minder bedeutsam ist. Es müsste ein viel wichtigeres Thema sein. Das bedeutet also, dass von einer großen Koalition beim Friedensprozess eher die Aufrechterhaltung des Status quo gegenüber den Palästinensern zu erwarten ist. Und dieser Status quo ist für die Palästinenser katastrophal. Zumindest ist aber nicht mit einer Verschlechterung zu rechnen, im Sinne einer völkerrechtswidrigen Annexion der besetzten Gebiete. Ein Durchbruch im Friedensprozess ist aber ebenfalls nicht zu erwarten. Auch international müsste sich dazu etwas ändern. Vor allem in den Vereinigten Staaten. Es müsste eine amerikanische Regierung geben, die aktiv einen Friedensprozess vorantreibt und beide Seiten auch etwas unter Druck setzt. Außerdem wäre eine Verbesserung der Situation im Gazastreifen nur bei einer Versöhnung der palästinensischen politischen Lager denkbar, die verfeindet sind. Und wahrscheinlich gelingt das sogar nur im Kontext eines größeren Friedensprozesses in der Region.
Benny Gantz hat sich im Wahlkampf für Friedensgespräche mit den Palästinensern ausgesprochen.
Stetter: Was sich ganz sicherlich ändern würde, wenn Gantz Ministerpräsident wäre, ist, dass er den Gesprächsfaden zur Palästinensischen Autonomiebehörde aufnehmen und provokative Gesten wie das Einfrieren von Geldern unterlassen würde. Allerdings denke ich nicht, dass man in dieser Legislaturperiode zu der Situation von vor gut zwölf Jahren zurückkehrt, als sich der israelische Premierminister Ehud Olmert 38 Mal mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas getroffen hat und en détail geschaut hat, wie ein Friedensvertrag aussehen kann. Dabei sind diese Überlegungen noch in der Schublade und auch prinzipiell umsetzbar. Aber dauerhafte Gesprächskanäle aufzubauen, die auch funktionieren und Partner auf palästinensischer Seite zu sehen um neues Vertrauen aufzubauen, wäre ein wichtiger Schritt.
Welche Auswirkungen hat die Wahl für die Beziehung Israels zum Iran?
Stetter: Das entscheidende Thema beim Iran ist das Nuklearabkommen, das die USA aufgekündigt haben und an das sich nun auch der Iran nicht mehr hält. Israels Einflussmöglichkeiten darauf sind gering. Das läuft fast ausschließlich über das Weiße Haus.
Und wie steht es um die Beziehungen zu den Nachbarländern?
Stetter: Israel steht militärisch betrachtet an zwei Fronten, nämlich zum Libanon und zum Gazastreifen. Und Syrien, wo Iran präsent ist, kommt auch noch dazu. Libanon und Gaza sind sogenannte asymmetrische Konflikte. Im Libanon gibt es durch die Hisbollah eine Bedrohung für Israel, im Gazastreifen ist es besonders die Hamas. Beides sind militärisch betrachtet sicherheitspolitische Herausforderungen für Israel. Beide bedrohen die Bewohner nahe dieser Grenzen. Und bei beiden Konflikten gibt es Potenzial für Eskalation. Aber bisher haben alle Konfliktparteien es nicht zu dieser Eskalation kommen lassen. Und das trifft sowohl auf Israel als auch auf die Hamas und die Hisbollah zu. Denn beide brauchen einerseits diese feindliche Haltung gegenüber Israel aus ideologischen Gründen und um ihre Klientel zufriedenzustellen. Auf der anderen Seite gibt es auch Faktoren, die sowohl die Hamas als auch die Hisbollah zurückhaltend sein lassen. Beide denken taktisch und wollen dennoch eine latente Bedrohungslage aufrechterhalten, die sich auch in absehbarer Zukunft nicht verändern wird."
Quelle: https://www.aachener-zeitung.de/politik/welt/das-charisma-ist-aufgebraucht_aid-45950039