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Die Stille verdichtete sich, in der Kirche schien die Zeit stillzustehen, aber niemand hätte zu husten oder die Stellung zu verändern gewagt, um nicht Pater Restrepos Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, dessen letzte Worte noch zwischen den Säulen nachzitterten.
   Und in diesem Augenblick, erinnerte sich Nivea Jahre später, inmitten der Bangigkeit und der Stille, erklang mit aller Deutlichkeit die Stimme ihrer kleinen Clara.
   »Pst, Pater Restrepo! Wenn die Geschichte mit der Hölle aber nur geschwindelt ist? Dann sind wir alle angeschmiert.«
   Der Zeigefinger des Jesuiten, der schon in die Luft emporgereckt war, um neue Martern anzukündigen, blieb wie ein Blitzableiter über seinem Kopf stehen. Die Leute hielten den Atem an, wer eingenickt war, wachte wieder auf. Die Ehegatten del Valle, die panischen Schrecken in sich aufsteigen fühlten und sahen, wie ihre Kinder nervös auf den Bänken herumrutschten, reagierten als erste. Severo begriff, daß er handeln mußte, ehe ein allgemeines Gelächter ausbrach oder eine himmlische Katastrophe über sie hereinbrach. Er packte seine Frau am Arm und Clara am Kragen und verließ, beide hinter sich herziehend, mit großen Schritten die Kirche, gefolgt von seinen übrigen Kindern, die im Trupp zur Tür rannten. Es gelang ihnen hinauszukommen, ehe der Priester den Blitz auf sie herabbeschwor, der sie in Salzsäulen verwandeln würde, aber auf der Schwelle vernahmen sie seine Stimme, schrecklich wie die eines beleidigten Erzengels.
   »Besessene ! Hochmütige Besessene !« Die Worte Pater Restrepos gruben sich der Familie wie eine schlimme Diagnose ins Gedächtnis, und in den folgendenJahren sollte sie mehr als einmal Gelegenheit haben, sich ihrer zu erinnern. Die einzige, die nicht mehr an sie dachte, war Clara. Sie schrieb sie in ihr Tagebuch und vergaß sie dann.

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   Clara war die einzige, die das Verfahren für natürlich hielt. Férula berief sich jedesmal auf diesen Vorfall, wenn sie sagte, sie säßen hier in einem Loch, in einer unmenschlichen Gegend, in der die Gesetze Gottes und der Fortschritt der Wissenschaft außer Kraft gesetzt seien, demnächst würden sie noch auf Besenstielen reiten, aber Esteban schnitt ihr das Wort ab, weil er nicht wollte, daß seine Frau auf neue Ideen kam. In den letzten Tagen hatte Clara wieder ihre spiritistischen Praktiken aufgenommen, sie sprach mit den Gespenstern und schrieb stundenlang in ihre Lebensnotizhefte. Als sie das Interesse an der Schule, der Schneiderwerkstatt und den feministischen Versammlungen verlor, wußten alle, daß sie wieder schwanger war.
   »Das ist deine Schuld«, schrie Férula ihren Bruder an.
   »Das will ich hoffen«, antwortete er.
   Bald stand fest, daß Clara nicht imstande sein würde, die Monate der Schwangerschaft auf dem Land zu verbringen und im Dorf zu entbinden. Also wurde die Rückkehr in die Hauptstadt vorbereitet. Das tröstete Férula ein wenig, die Claras Schwangerschaft als einen ihr persönlich angetanen Tort empfand. Sie reiste mit dem größten Teil des Gepäcks und den zwei städtischen Dienstmädchen voraus, um das große Eckhaus für die Ankunft Claras vorzubereiten. Zehn Tage später begleitete Esteban seine Frau und seine Tochter in die Haupt Stadt und ließ die Drei Marien wieder in den Händen Pedro Segundo Garcias, der zum Verwalter aufgerückt war, obwohl ihm daraus statt Privilegien nur mehr Arbeit erwuchs. Die Reise von den Drei Marien nach Santiago erschöpfte Claras Kräfte vollends. Sie wurde immer blasser und asthmatischer, die Ringe unter ihren Augen vergrößerten sich.

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Es war das Jahr des Flecktyphus. Er begann als eine zusätzliche Plage der Armen und nahm bald die Kennzeichen einer göttlichen Strafe an. Er brach in den Armenvierteln aus aufgrund der Kälte, der Unterernährung, des schmutzigen Wassers in den offenen Rinnen, und mit den Arbeitslosen verbreitete er sich über die ganze Stadt. Die Krankenhäuser konnten die Patienten nicht mehr fassen, hohläugig schleppten sich die Kranken durch die Straßen, fingen ihre Flöhe und warfen sie auf die Gesunden. Die Seuche griff um sich, hielt Einzug in allen Häusern, infizierte die Schulen und Fabriken, keiner konnte sich mehr sicher fühlen. Alle lebten in Angst, jeder suchte an sich die Anzeichen der schrecklichen Krankheit. Diejenigen, die sich angesteckt hatten, fühlten eine Grabeskälte in ihren Knochen, begannen zu zittern und fielen bald in eine Art Stupor. Sie verblödeten, während sie, übersät mit Flecken, vom Fieber aufgezehrt wurden, sie schieden Blut aus, delirierten von Feuer und Untergang und fielen um, die Knochen Watte, die Beine Lappen und einen Gallegeschmack im Mund, der Körper eine offene Wunde, eine rote Pustel neben einer blauen, einer gelben, einer schwarzen, sie kotzten sich die Eingeweide aus dem Leib und schrien zu Gott, daß er sich ihrer erbarme und sie endlich sterben lasse, weil sie es nicht mehr aushalten könnten, der Kopf zerspringe ihnen und die Seele entweiche ihnen mit der Scheiße und dem Entsetzen.
   Esteban schlug vor, seine ganze Familie aufs Land zu bringen, um sie vor der Ansteckung zu bewahren, aber Clara wollte nichts davon hören. Sie war vollauf damit beschäftigt, den Armen beizustehen, eine Aufgabe ohne Anfang und ohne Ende.

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An dem Tag, an dem Luisa Mora an der Tür des großen Eckhauses klingelte, saß Senator Trueba in seiner Bibliothek, um nachzudenken. Luisa war die letzte der Schwestern Mora, die noch auf Erden weilte. Sie war auf die Größe eines verirrten Engels geschrumpft, aber geistig noch klar und im Vollbesitz ihrer unerschütterlichen mentalen Kräfte. Esteban Trueba hatte sie seit Claras Tod nicht mehr gesehen, erkannte sie jedoch an der Stimme, die immer noch wie eine Zauberflöte klang, und an dem Duft von wilden Veilchen, den die Zeit gemildert hatte, der aber immer noch von weitem zu spüren war. Als sie das Zimmer betrat, kam mit ihr die geflügelte Anwesenheit Claras, schwebend vor den verliebten Augen ihres Mannes, der sie seit mehreren Tagen nicht gesehen hatte.
   »Ich komme, um Ihnen Unglück anzukündigen«, sagte sie, nachdem sie im Sessel Platz genommen hatte.
   »Ach, liebe Luisa! Davon haben wir mehr als genug . . . « seufzte er.

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   »Lassen wir es hier, wo es immer hätte liegen sollen«, sagte er.
   Ich kam an einem strahlenden Wintermorgen nach Hause, auf einem Karren, der von einem mageren Pferd gezogen wurde. Die Straße mit ihren zwei Reihen hundertjähriger Kastanien und ihren herrschaftlichen Villen schien eine ungeeignete Szenerie für dieses schlichte Fahrzeug zu sein, aber als es vor dem Haus meines Großvaters hielt, paßte es gut zu dessen Stil. Das große Eckhaus war trauriger und älter, als ich mich erinnern konnte, absurd mit seinen architektonischen Auswüchsen, dem vorgeblich französischen Stil, der von pestkrankem Efeu überwucherten Fassade. Der Garten war eine einzige struppige Wildnis, die meisten Fensterläden hingen schief in den Angeln. Die Einfahrt stand wie immer offen. Ich läutete. Nach einiger Zeit hörte ich Alpargatas näher kommen, ein unbekanntes Dienstmädchen öffnete mir die Tür. Sie sah mich an, ohne mich zu erkennen, und ich spürte in der Nase den wunderbaren Holz- und Modergeruch des Hauses, in dem ich geboren worden war. Ich lief in die Bibliothek, weil ich ahnte, daß der Großvater da auf mich warten würde, wo er immer saß, und da saß er auch, zusammengefallen in seinem Sessel. Ich war überrascht, ihn so greisenhaft, so winzig und zittrig zu sehen, nur durch seine weiße Löwenmähne und den silbernen Stock erinnerte er noch an frühere Zeiten. Eine lange Zeit hielten wir uns umschlungen, Großvater, Alba, Alba, Großvater flüsternd, wir küßten uns, und als er meine Hand sah, brach er in Weinen und Verwünschungen aus und schlug mit dem Stock gegen die Möbel, wie er es früher immer getan hatte, und ich lachte, weil er doch noch nicht so alt und kraftlos war, wie es mir anfangs vorgekommen war. Noch an demselben Tag wollte mein Großvater mit mir außer Landes• Er hatte Angst um mich. Aber ich erklärte ihm, daß ich nicht weggehen könne, weil ich fern von Chile wie einer dieser Bäume sein würde, die zu Weihnachten geschnitten werden' diese armen Fichten ohne Wurzeln, die eine Zeitlang halten' und dann sterben sie.

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Buchcover "Das Geisterhaus"

 

aus

Isabel Allende: Das Geisterhaus
suhrkamp taschenbuch, 1989

 

erkannt von: Tino Krug