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...
Das alles sollte einen Sinn haben. Und ich wusste auch, wie.
Ich zog meinen eigenen, zerschlissenen Pullover und meine alte Hose wieder an, knöpfte sie rasch zu und schlüpfte in die Schuhe.
Dann griff ich nach meiner Tasche, die auf dem Boden lag, öffnete die Garderobentür und eilte hinaus. Ich fand die Produktionsleiterin und fasste sie am Arm.
   »Wo ist Li Xiara? Ich muss mit Li Xiara sprechen.«
   Sie hielt sich im Gebäude des Ortskomitees auf, wo man das größte Büro für sie geräumt hatte, und als ich kam, scheuchte ein Wachmann sofort drei Männer hinaus, obwohl ihr Gespräch mit der Vorsitzenden ganz offensichtlich noch nicht beendet gewesen war.
   Xiara stand sofort auf und kam mir entgegen, sie bedachte mich wieder mit diesem milden Lächeln, aber das interessierte mich nicht mehr.
   »Hier.« Ich reichte ihr das Buch.
   Sie nahm es entgegen, ohne es aufzuschlagen, warf nicht einmal einen Blick darauf.
   »Tao, ich freue mich so sehr auf Ihre Rede.« »Sie müssen das Buch lesen<<, sagte ich.
   »Wenn Sie möchten, dass wir Ihr Manuskript noch einmal gemeinsam durchgehen, können wir das gerne tun. Den Wortlaut. Vielleicht sollten wir einige Formulierungen ändern . . .«
   »Ich möchte nur, dass Sie das lesen.«
   Jetzt betrachtete sie das Buch endlich, strich mit dem
Finger über den Titel. »Der blinde Imker?«
   Ich nickte. »Ich werde keine Rede halten, ehe Sie es nicht gelesen haben.«
   Sie sah augenblicklich auf. »Was sagen Sie da?«
   »Sie machen alles falsch.«
   Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wir machen alles, was in unserer Macht steht.«

...

   So stand ich einfach nur da. Versuchte, jeder einzelnen Biene mit dem Blick zu folgen, ihre Reise zu beobachten, zum Bienenstock und wieder hinaus zu den Blüten, von einer Blüte zur nächsten und wieder zurück. Aber ich verlor sie ständig aus den Augen. Es waren zu viele, und ihre Bewegungsmuster waren unmöglich zu verstehen.
   Also nahm ich lieber das Ganze in den Blick, den Bienenstock und all das Leben, das ihn umgab, all das Leben, das er beschützte.
   Während ich so dastand, tauchte in meiner Nähe jemand auf. Ich drehte mich um. Es war Kuan. Er war fasziniert von dem Bienenstock und reckte den Kopf, um ihn besser sehen zu können. Dann entdeckte er mich.
   »Tao...«
   Er kam auf mich zu. Sein Gang wirkte fremd, irgendwie schwerer, wie der eines alten Mannes.
   Wir blieben voreinander stehen. Kuan sah mir in die Augen, schlug den Blick nicht nieder, wie er es früher so oft getan hatte. Er wirkte ausgezehrt und blass.
   Ich vermisste ihn. Vermisste den, der er gewesen war. Das Helle, Leichte, das er früher ausgestrahlt hatte, seine Zufriedenheit, die Freude über das Kind, das er hatte. Und das Kind, das er bekommen wollte. Ich wünschte, ich hätte etwas sagen können, was dieses Leuchten erneut in ihm weckte, aber ich fand keine Worte.
   Wir drehten uns zum Bienenstock um, und so blieben wir Seite an Seite stehen und betrachteten ihn. Unsere Hände waren sich ganz nahe, aber keiner nahm die des anderen, wir waren wie zwei Teenager, die sich nicht trauten. Die Wärme zwischen uns war wieder da.
   Eine Biene surrte in der Luft an uns vorüber, nur einen Meter entfernt, sie drehte nach rechts ab, in einer scheinbar planlosen Bewegung, und flog dann zwischen uns hindurch -- ich spürte einen Luftzug an der Wange —, um in Richtung der Blüten zu verschwinden.
   Da nahm er meine Hand.
   Ich holte Luft. Diesmal war er derjenige, der sich traute.
   Endlich berührte er mich wieder. Meine Hand wurde ganz klein, als er sie in seine nahm. Er teilte seine Wärme mit mir.
   Wir waren einfach nur da, hielten uns an den Händen und betrachteten den Bienenstock.
   Und dann kamen endlich die Worte, nach denen ich mich so gesehnt hatte.
Leise, aber deutlich, mit einem Ernst, den ich nicht von ihm kannte. Er sagte es nicht, weil er es musste, sondern weil er es ernst meinte:
   »Es war nicht deine Schuld, Tao. Es war nicht deine Schuld.«

...

   Ich kannte die Namen der Abteilungen und die Namen der Ärzte. Jetzt suchte ich sie trotzdem auf, weil ich dachte, wenn sie etwas wüssten, wäre es schwieriger für sie, mich abzuweisen, wenn sie mir gegenüberstanden, wenn sie die Mutter des Jungen sahen, von Angesicht zu Angesicht. Manche erinnerten sich an mich, hatten Mitleid mit mir. Einige wagten es sogar, mir in die Augen zu sehen und zu sagen, sie könnten meine Verzweiflung verstehen.
   Aber die Antwort war stets dieselbe. Sie fanden ihn in keinem Verzeichnis. Sie hatten noch nie von Wei-Wen gehört. Und immer wurde ich an andere Krankenhäuser weiterverwiesen. Haben Sie es schon in Fengtai versucht, waren Sie im Zentralklinikum in Chaoyang, haben Sie sich im Haidian Centerfiir Atemwegserkrankungen erkundigt?
   Ich bat jedes Mal darum, mit einem Vorgesetzten zu sprechen, gab mich nur selten mit dem Erstbesten zufrieden, der mich empfing. Und dann wartete ich. Tagelang. Sitzend, stehend, umherwandelnd, an Fenstern, in dunklen Räumen, auf kühlen Steinböden, in kalt beleuchteten Sälen, mit einem Glas Wasser in der Hand oder einem Becher Tee aus einem Automaten, meistens allein, hin und wieder in spärlich besetzten Wartezimmern.

...

   Und da stand sie.
   Vielleicht sorgte meine Schwäche, diese schlecht verborgene Verletzlichkeit an jenem Tag dafür, dass Thilda sich zu mir vorwagte. Ich war nicht länger der geheimnisvolle Zugezogene, der beim Herrn Professor mit irgendetwas Abgehobenem und Unverständlichem beschäftigt war.
Denn sie lachte nicht. Sie reichte mir ihre behandschuhte Hand, knickste und bedankte sich für den »äh . . . fabelhaften« Vortrag. Im Hintergrund giggelten ihre Freundinnen noch immer. Doch ihr Gekicher verschwand für mich, sie verschwanden, ich sah auch Rahm nicht mehr, nur ihre Hand. Sie verhöhnte mich nicht, sie lachte nicht über mich, und dafür war ich ihr unendlich dankbar. Die Augen dieses bezaubernden Wesens glitzerten, sie standen weit auseinander, waren so empfänglich für die Welt und das Leben, in erster Lillie aßer für mich. Nicht auszudenken, für mich! Nie zuvor hatte mich eine junge Frau so angesehen, es war ein Blick; der mir sagte, dass sie willens war, sich vollkommen hinzugeben, mir alles zu geben, und zwar nur mir, denn 'Sie fah keinen der Umstehenden so an wie mich. Bei dem Gedanken begannen meine Knie sofort wieder zu zittern; bis ich schließlich nach unten sah. Es war, als hätte man mir Pine sehne durchschnitten, wie ein körperlicher Schmerz, und ich wünschte mir nichts mehr, als den BlicQkontakti wiederaufzunehmen und die Welt um mich herum fahren zu lassen.
   Es dauerte Monate, ehe die Leute im Dorf nicht mehr über meinen Auftritt sprachen. War man mir früher ausschließlich mit Respekt und Ehrfurcht begegnet, kam es jetzt öfter vor,' dass man mir etwas fester die Hand schüttelte, mir auf die Schultern klopfte, vor allem die Männer, und feixend und mit unverhohlener Ironie zu mir sprach. Und die Worte zu ihrer vollen Größe expandieren, Bibel der Natur und exotische Seeungeheuer verfolgten mich

...

   Während meines Studiums hatte ich mich immer wieder in die Bibel vertieft. Sie war mein ständiger Begleiter gewesen, jeden Abend hatte ich sie mit ins Bett genommen. Unablässig suchte ich nach einem Zusammenhang zwischen meinem Fach und der Schrift, zwischen den kleinen Wundern der Natur und den großen Worten auf dem Papier. Vor allem die paulinischen Schriften hatten es mir angetan. Ich konnte gar nicht zählen, wie oft ich mich schon in Paulus' Brief an die Römer vertieft hatte, weil er so viele seiner Grundgedanken enthielt. Näher konnte man einer paulinischen Theologie gar nicht kommen. Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden. Was bedeutete das? War vielleicht nur der wirklich frei, der auch gefesselt war? Das Rechte zu tun konnte ein Gefängnis sein, eine Gefangenschaft, aber man hatte uns den Weg gewiesen. Warum gelang es uns dann nicht? Nicht einmal in der direkten Begegnung mit dem Schöpfungswerk, das so überwältigend war, dass es einem den Atem raubte, glückte es dem Menschen, das Rechte zu tun.
   Ich fand nie eine Antwort und nahm das kleine schwarze Buch schließlich immer seltener zur Hand. Es verstaubte im Regal, zusammen mit den anderen Werken. Was sollte ich meiner Tochter jetzt sagen? Dass dies, mein sogenanntes Krankenlager, viel zu banal und armselig war, um es mit Gott in Verbindung zu bringen? Dass es seinen Ursprung einzig und allein in mir selbst hatte, in meinen Entscheidungen und dem Leben, das ich gelebt hatte?
   Nein. Vielleicht an einem anderen Tag, nicht heute. Also gab ich ihr keine Antwort, sondern schÜttelte nur schwach den Kopf und tat, als würde ich wegdämmern.

Sie blieb bei mir sitzen, bis sich Ruhe über das Haus legte. Ich lauschte dem Rascheln der Seiten, wenn sie umblätterte, dem leisen Knistern des Musselin, wenn sie hin und wieder ihre Position änderte. Offenbar war sie von den Büchern gefangen wie ich von meiner Krankheit, obwohl sie schlau genug hätte sein sollen, es besser zu wissen. All ihre Bücherweisheit war umsonst, aus dem einfachen Grund, dass sie ein Mädchen war und kein Junge.
   Mit einem Mal wurde sie unterbrochen. Die Tür ging auf. Schnelle, stampfende Schritte.
   »Hier sitzt du also?« Thildas Stimme klang streng, und ihr Blick war es sicher auch. »Es ist Schlafenszeit«, fuhr sie fort, als wäre das Kommando genug. »Und du musst noch das Geschirr vom Abendessen spülen. Außerdem hat Edmund Kopfschmerzen, setz ihm bitte Teewasser auf.«
   »Ja, Mutter.«
   Ich hörte Charlottes Füße auf dem Boden, als sie aufstand und das Buch auf den Konsolentisch legte. Ihre leichten Schritte auf dem Weg zur Tür.
   »Gute Nacht, Vater.«
   Dann verschwand sie.

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»Aus so wenigen Beispielen kann man ersehen, was für Wunder an den Insekten zu bemerken sein müssen, und wie dienlich uns die Untersuchung ihrer natürlichen Beschaffenheit zur Verherrlichung des göttlichen Rahmens sein könne, der große Dinge tut, die man nicht ergründen kann, und Wunder, die man nicht erzählen kann. «
   Ich erdreistete mich aufzusehen, und mir wurde deutlich, ja, vollkommen klar, dass ich verloren hatte, denn die Gesichter, die mich anstarrten, waren im besten Fall erschüttert, im schlimmsten sogar erbost, und endlich verstand ich das ganze Ausmaß dessen, was ich getan hatte. Es war mir nicht im Entferntesten gelungen, ihnen von den Wundern der Natur zu berichten. Ich hatte hier oben gestanden und ihnen vom Niedersten des Niederen erzählt und noch dazu Gott in diese Sache mit hineingezogen.
   Den Rest der Geschichte ließ ich aus.

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   Mit einem Mal wirkte das Haus so still. Waren alle gegangen?
   Nur das Knacken der Kohle in der Feuerstelle war noch zu hören.
   Doch dann, plötzlich: Gesang. Klare Stimmen aus dem Garten.
   Hark the herald angels sing
   Glory to the newborn King
   Stand Weihnachten vor der Tür?
   In den letzten Jahren hatten verschiedene Chöre aus der Gegend begonnen, in der Adventszeit an den Türen zu singen, nicht für Geld oder Geschenke, sondern ganz in der weihnachtlichen Tradition, den Mitmenschen eine Freude zu machen. Es gab eine Zeit, in der ich das schön gefunden habe, in der diese kleinen Auftritte ein Licht in mir entzünden konnten, das ich längst erloschen geglaubt hatte. Aber das schien mir eine Ewigkeit her.
   Die hellen Stimmen strömten zu mir wie Schmelzwasser:
   Peace on earth and mercy Child
   God and sinners reconciled

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Buchcover "Die Geschichte der Bienen"

 

aus

Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen
btb, 2015

 

erkannt von: Ulrike Haerendel