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   »Professor«, sagte der Priester leise lächelnd. »Dies hier ist die Sagrada Familia. Innerhalb dieser Mauern hat Gaudí Gott, die Wissenschaft und die Natur verschmolzen. Das Thema von Blakes Bild ist für uns nichts Neues.« in seinen Augen lag ein rätselhaftes Funkeln. »Vielleicht sind nicht alle Geistlichen so aufgeschlossen wie ich, aber wie Sie wissen, ist das Christentum im ständigen Wandel — für uns alle.« Er lächelte sanft und nickte in Richtung des Buches. »ich bin allerdings froh, dass Señor Kirsch nicht darauf bestanden hat, die Leihkarte neben dem Buch auszustellen. In Anbetracht seines Rufes bin ich nicht sicher, wie ich das hätte erklären sollen, schon gar nicht nach seiner Präsentation heute Nacht.« Beñia zögerte und blickte Langdon ernst an. »ich habe das Gefühl, Señor, dass dieses Bild nicht das ist, was Sie zu finden gehofft haben, nicht wahr?« 

...

   Der König streckte den Arm aus und ergriff die knochige Hand des Bischofs. »Mein Freund, ich weiß nicht, wo die Zeit geblieben ist. Sie und ich, wir sind alt geworden. Ich möchte Ihnen danken. Sie haben mir in all den Jahren mit klugem Rat beiseitegestanden, über den Verlust meiner Frau und die Veränderungen in unserem Land hinweg. Die Stärke Ihres Glaubens war mir immer eine Stütze.« 
   »Unsere Freundschaft ist eine Ehre, die ich ewig schätzen werde.« 
   Der König lächelte schwach. »Antonio, ich weiß, Sie haben Opfer gebracht, um bei mir bleiben zu können. Rom, zum Beispiel.« 
   Valdespino zuckte die Schultern. »Kardinal zu werden hätte mich nicht näher zu Gott gebracht. Mein Platz war immer hier bei Ihnen, Hoheit.« 
   »Ihre Loyalität war und ist eine Gnade.« 
   »Ich werde niemals die Barmherzigkeit vergessen, die Sie mir all die Jahre erwiesen haben.« 
   Der König schloss die Augen und hielt die Hand des Bischofs fest umschlossen. »Ich mache mir große Sorgen, Antonio. Mein Sohn wird bald am Ruder eines gewaltigen Schiffes stehen, das zu steuern er noch nicht bereit ist. Bitte leiten Sie ihn. Seien Sie sein Polarstern. Legen Sie Ihre ruhige Hand auf das Ruder, vornehmlich bei rauer See. Und vor allem, Antonio — sollte er vom Kurs abkommen, helfen Sie ihm, den Weg zurück zu finden ... zurück zu allem, was rein und gut ist, ich flehe Sie an.« 

...

   Das Parlament der Weltreligionen.
   Seit 1893 hatten sich Hunderte spirituelle Führer aus fast dreißig Religionsgemeinschaften regelmäßig alle paar Jahre an verschiedenen Orten eingefunden, um eine Woche in interreligiösem Dialog zu verbringen. Zu den Teilnehmern gehörten einflussreiche christliche Geistliche, jüdische Rabbis, islamische Mullahs, hinduistische Pujaris, buddhistische Bhikkhus, Jainas, Sikhs und andere religiöse Führer aus aller Welt.
   Das selbsternannte Ziel dieses Parlaments bestand darin, »die Harmonie zwischen den Weltreligionen zu kultivieren, Brücken zwischen den unterschiedlichen Glaubensgrundsätzen zu bauen und die Gemeinsamkeiten aller Religionen zu preisen«

...

   »Verrate mir bitte Edmonds Passwort, Winston.« 
  
»Das will ich gern tun, aber ich habe online gelesen, dass Sie sich ziemlich gut darauf verstehen, Codes zu entschlüsseln. Also los!« 
   Langdon ließ die Schultern hängen. »Ich bin ein bisschen zu müde für Rätsel, Winston. Ich kann unmöglich eine sechsstellige PIN erraten.« 
   »Drücken Sie einfach auf den Aktivierungsknopf.« 
   Langdon beäugte das Smartphone und betätigte den Knopf. 
   Auf dem Display leuchtete der Passwort-Hinweis auf: PTSD. Langdon schüttelte den Kopf. »Post-Traumatic Stress Disorder?« 
   »Nein.« Winston lachte linkisch. »Pi to six digits — die ersten sechs Stellen von Pi.« 
   Langdon verdrehte die Augen. Ernsthaft? Er tippte 314159 ein — die ersten sechs Ziffern von Pi und der Homescreen leuchtete auf. Er enthielt lediglich zwei Zeilen Text. 

Die Geschichte wird mich in guter Erinnerung behalten — weil ich sie selbst schreibe. 

...

   Langdon hob die Brauen und musterte den alten Priester erstaunt. 
  »Oh, bitte.« Padre Beñia lachte auf. »Ich glaube einfach nicht, dass der gleiche Gott, der uns mit Fantasie und logischem Verstand gesegnet hat ...« 
   »... wollte, dass wir beides nicht gebrauchen?«, vollendete Langdon den Satz.  
   Beñia nickte. »Ich sehe, Sie kennen sich aus mit Galileo. Physik war mein Lieblingsfach. Über die Naturwissenschaften bin ich zu Gott gekommen. Das ist einer der Gründe, weshalb mir die Sagrada Familia so wichtig ist. Sie ist wie ein Gotteshaus der Zukunft. Eine Kirche, die mit der Natur verbunden und im Einklang ist.«
   Langdon fragte sich, ob die Sagrada Familia — ähnlich dem Pantheon in Rom — möglicherweise ein Brennpunkt für den Übergang wurde, ein Bauwerk, das mit einem Fuß in der Vergangenheit und mit dem anderen in der Zukunft stand, eine physische Brücke zwischen einem sterbenden und einem neu erwachenden Glauben. Falls dem so war, würde die Sagrada Familia eine viel größere Bedeutung erlangen, als es sich heute irgendjemand vorstellen konnte. 
   Beñia führte Langdon die gleiche gewundene Treppe hinunter wie in der Nacht zuvor. 
   Die Krypta. 
   »Es erscheint mir offensichtlich, dass das Christentum nur dann eine Chance hat, das heraufziehende Zeitalter zu überleben, wenn wir auffören, die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft abzulehnen«, sagte Beñia, während sie nach unten stiegen. »Wir müssen auffören, beweisbare Fakten zu bestreiten. Wir müssen ein spiritueller Partner der Wissenschaft werden, und unsere einzigartige Erfahrung — zweitausend Jahre der Philosophie, der persönlichen Einkehr, der Meditation — einsetzen, der Menschheit bei der Errichtung eines moralischen Gerüsts zu helfen und sicherzustellen, dass die künftigen Technologien uns besser machen, vereinen, erleuchten, anstatt uns zu zerstören.« 
   »Ich könnte es nicht besser sagen«, pflichtete Langdon ihm bei und fügte in Gedanken hinzu: Ich hoffe nur, die Wissenschaft nimmt diese Hilfe an.

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Der Schatten des Windes

 

aus

Dan Brown: Origin
Lübbe, 2017

-ISBN 978-3-431-03999-3

 

erkannt von: Maximilian Moll