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Es schneite nicht mehr, und jemand hatte das Meer vor meinem Fenster mit einem weißen Platz vertauscht, auf dem sich einige Schaukeln und wenig mehr abhoben. Mein Vater, neben meinem Bett auf einem Stuhl zusammengesunken, schaute auf und sah mich schweigend an. Ich lächelte ihm zu, und er brach in Tränen aus. Fermin, der auf dem Korridor den Schlaf des Gerechten schlief, und Bea, seinen Kopf auf dem Schoß, hörten ihn, ein Schluchzen, das in Rufe mündete, und kamen ins Zimmer. Ich erinnere mich, daß Fermin weiß und dünn war wie eine Fischgräte. Man erzählte mir, das Blut in meinen Adern stamme von ihm, da ich so gut wie alles eigene verloren hätte, und seit Tagen stopfe er in der Cafeteria der Klinik Brötchen mit Schweineschnitzeln in sich hinein, um rote Blutkörperchen zu bilden, falls ich noch mehr davon benötige. Vielleicht war das die Erklärung dafür, daß ich mich weiser und weniger danielig fühlte. Ich erinnere mich, daß mich ein Wald aus Blumen umgab und daß an diesem Nachmittag Gustavo Barceló und seine Nichte Clara, die Bernarda und mein Freund Tomás durchs Zimmer defilierten. Letzterer getraute sich nicht, mir in die Augen zu sehen, und als ich ihn umarmte, lief er schniefend davon. Ich erinnere mich vage an Don Federico, der in Begleitung der Merceditas kam, und an den Lehrer Don Anacleto. Vor allem aber erinnere ich mich an Bea, die mich schweigend anschaute, während alle übrigen dem Himmel dankten, und an meinen Vater, der sieben Nächte auf diesem Stuhl geschlafen und zu einem Gott gebetet hatte, an den er nicht glaubte.
...
Er flehte den Herrn an, ihm ein Zeichen zu senden, ein Flüstern, ein klein wenig von seiner Gegenwart. Gott, in seiner unendlichen Weisheit und vielleicht überhäuft vom Ansturm der Bitten so vieler gequälter Seelen, gab keine Antwort.
...
Als ich an diesem Tag nach dem Besuch des ehemaligen Aldaya-Hauses in die Buchhandlung zurückging, fand ich in der Post ein Paket mit einem Pariser Poststempel. Es enthielt ein Buch mit dem Titel Die Nebelburg, Roman eines gewissen Boris Laurent. Ich blätterte es rasch durch und spürte dabei diesen verheißungsvollen Zauberduft neuer Bücher. Ganz zufällig blieb ich bei einem Satzanfang hängen. Sogleich war mir klar, wer ihn geschrieben hatte, und als ich zur ersten Seite zurückging, überraschte es mich nicht, in der blauen Schrift dieses Füllfederhalters, den ich als Junge so angebetet hatte, folgende Widmung zu finden:
Für meinen Freund Daniel,
der mir Stimme und Feder zurückgegeben hat.
Und für Bea,
die uns beiden das Leben zurückgegeben hat.Ein junger Mann, schon mit einigen weißen Haaren, spaziert durch die Straßen eines Barcelonas, auf dem ein aschener Himmel lastet und dunstiges Sonnenlicht auf die Rambla de Santa Mónica filtert.
An seiner Hand geht ein etwa zehnjähriger Junge, ganz aufgeregt angesichts des Geheimnisses, das ihm sein Vater am Morgen verheißen hat, das Versprechen des Friedhofs der vergessenen Bücher.
»Julián, was du heute sehen wirst, darfst du niemandem erzählen. Niemandem.«
»Auch nicht Mama?« fragt der Junge mit gedämpfter Stimme.
Sein Vater seufzt hinter seinem traurigen Lächeln, das ihn durchs Leben verfolgt....
Bläuliches Halbdunkel hüllte alles ein, so daß die Konturen einer breiten Marmortreppe und eine Galerie mit Fresken voller Engels- und Fabelfiguren gerade eben angedeutet wurden. Wir folgten dem Aufseher durch einen prächtigen Gang und gelangten in einen riesigen, kreisförmigen Saal, wo sich eine regelrechte Kathedrale aus Dunkelheit zu einer von Lichtgarben erfüllten Kuppel öffnete. Ein Gewirr aus Gängen und von Büchern überquellenden Regalen erstreckte sich von der Basis zur Spitze und formte einen Bienenstock aus Tunneln, Treppen, Plattformen und Brücken, die eine gigantische Bibliothek von undurchschaubarer Geometrie erahnen ließen. Mit offenem Mund schaute ich meinen Vater an. Er lächelte und blinzelte mir zu.
»Willkommen im Friedhof der vergessenen Bücher, Daniel.«
In den Gängen und Lichtungen der Bibliothek verstreut, zeichneten sich ein Dutzend Gestalten ab. Einige von ihnen wandten sich um und grüßten aus der Ferne, und ich erkannte die Gesichter mehrerer Kollegen meines Vaters aus der Gilde der Antiquare. Wie merkwürdig, wie verschwörerisch sahen diese wohlvertrauten Männer auf einmal aus! Mein Vater kauerte sich neben mir nieder, schaute mir fest in die Augen und sprach leise auf mich ein.
»Was du hier siehst, Daniel, ist ein geheimer Ort, ein Mysterium. Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedesmal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten läßt, wächst sein Geist und wird stark. Schon vor so vielen Jahren, als mein eigener Vater zum ersten Mal mit mir hierherkam, war dieser Ort uralt. Vielleicht so alt wie die Stadt selbst. Niemand weiß mit Bestimmtheit, seit wann es ihn gibt oder wer ihn geschaffen hat. Ich erzähle dir jetzt, was mir schon mein Vater erzählt hat. Wenn eine Bibliothek verschwindet, wenn eine Buchhandlung ihre Türen schließt, wenn ein Buch dem Vergessen anheimfällt, dann versichern wir uns, die wir diesen Ort kennen, also die Aufseher, daß es hierhergelangt. Hier leben für immer die Bücher, an die sich niemand mehr erinnert, die Bücher, die sich in der Zeit verloren haben, und hoffen, eines Tages einem neuen Leser in die Hände zu fallen. In einer Buchhandlung werden Bücher verkauft und gekauft, aber eigentlich haben sie keinen Besitzer. Jedes Buch, das du hier siehst, ist jemandes bester Freund gewe sen. Jetzt haben sie nur noch uns, Daniel. Glaubst du, du wirst dieses Geheimnis für dich behalten können?«
Ich schaute meinen Vater fragend an und nickte dann. Er lächelte.
»Und weißt du das Beste?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Der Brauch will es, daß jemand, der diesen Ort zum ersten Mal besucht, sich ein Buch aussuchen muß, dasjenige, das ihm am meisten zusagt, und er muß es adoptieren und dafür sorgen, daß es nie verschwindet, daß es immer weiterlebt. Das ist ein ganz wichtiges Versprechen. Auf Lebenszeit. Heute bist du dran.«
Fast eine halbe Stunde spazierte ich durch dieses Labyrinth, das nach altem Papier, Staub und Magie roch. Sachte fuhr ich mit der Hand über die Rücken der ausgestellten Bücher, während ich meine Wahl prüfte. Auf den verwaschenen Bänden las ich Titel in Sprachen, die ich erkannte, und viele andere, die ich nicht einzuordnen vermochte. Ich lief durch gewundene Gänge und Galerien mit Hunderten, Tausenden von Bänden, die mehr über mich zu wissen schienen als ich über sie. Bald befiel mich der Gedanke, hinter dem Einband jedes einzelnen dieser Bücher tue sich ein unendliches, noch zu erforschendes Universum auf und jenseits dieser Mauern verschwendeten die Menschen ihr Leben an Fußballnachmittage und Radioserien, zufrieden damit, kaum über ihren Nabel hinauszusehen. Vielleicht war es dieser Gedanke, vielleicht der Zufall oder sein stolzer Verwandter, das Schicksal — jedenfalls war mir genau in diesem Moment klar, daß ich das Buch bereits gewählt hatte, das ich adoptieren würde. Oder vielleicht müßte ich sagen, das Buch, das mich adoptieren würde. In weinrotes Leder gebunden, stand es schüchtern am Ende eines Bords und raunte seinen Titel in Goldlettern, die im Licht der Kuppel leuchteten. Ich trat hinzu, strich mit den Fingerspitzen über die Wörter und las lautlos:Julián Carax
Der Schatten des WindesNoch nie hatte ich diesen Titel oder den Namen seines Autors gehört, doch das war mir egal. Der Entschluß war gefaßt. Von beiden Seiten. Äußerst behutsam ergriff ich das Buch und blätterte es durch. Aus der Gefangenschaft des Regals befreit, verströmte es eine goldene Staubwolke. Ich war zufrieden mit meiner Wahl und ging mit dem Buch unter dem Arm durch das Labyrinth zurück. Vielleicht hatte mich die Zauberstimmung dieses Orts bezwungen — jedenfalls hatte ich die Gewißheit, daß das Buch seit Jahren, wahrscheinlich seit der Zeit vor meiner Geburt, hier auf mich gewartet hatte.
Wieder zu Hause in der Calle Santa Ana, zog ich mich an diesem Nachmittag in mein Zimmer zurück und beschloß, die ersten Zeilen meines neuen Freundes zu lesen. Bevor ich es recht merkte, war ich schon rettungslos hineingestürzt. Der Roman erzählte die Geschichte eines Mannes auf der Suche nach seinem richtigen Vater, den er nie kennengelernt hatte und von dem er nur dank der letzten Worte erfuhr, die seine Mutter auf dem Totenbett sprach. Die Geschichte dieser Suche wurde zu einer rastlosen Odyssee, auf der der Protagonist darum kämpfte, eine verlorene Kindheit und Jugend wiederzufinden, und auf der man langsam den Schatten einer verfluchten Liebe entdeckte, deren Erinnerung ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen sollte. Je weiter ich in der Lektüre kam, desto mehr erinnerte mich die Erzählweise an eine dieser russischen Puppen, die immer weitere und kleinere Abbilder ihrer selbst in sich bergen. Die Minuten und Stunden verflogen im Nu. Gefangen in der Geschichte, vernahm ich Stunden später kaum die mitternächtlichen Glockenschläge der Kathedrale in der Ferne.
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aus
Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes
Fischer, 2013
-ISBN 978-3-5961-9615-9
erkannt von: Christiane Rodenbücher