"Ein neuer Anfang.
Ich wiederholte das Kunststück bei jedem Lehrer. Wiederholung ist wichtig, ob man nun Tiere trainiert oder Menschen. Eingerahmt von zwei Jungen mit ganz gewöhnlichen Namen, stürmte ich nach vorn und schrieb, bisweilen unter grässlichem Quietschen, den Namen meiner Neugeburt an die Wand. Es dauerte nicht lange, und die Jungs sprachen im Gleichklang mit, ein Crescendo, das, nachdem alle in dem Augenblick, in dem ich die richtige Note unterstrich, Luft geholt hatten, so triumphal in meinem neuen Namen gipfelte, dass es der Stolz jedes Chorleiters gewesen wäre. Ich schrieb, so schnell ich konnte, und ein paar Jungs feuerten mich mit einem »Drei! Komma! Eins! Vier!« an, und das Konzert endete mit meinem Strich durch den Kreis, den ich mit einer solchen Vehemenz zog, dass die Kreidestücken flogen.
Wenn ich an jenem Tag die Hand hob – und ich tat es bei jeder Gelegenheit –, dann erteilten die Lehrer mir das Wort mit einer einzigen Silbe, die Musik in meinen Ohren war. Die Schüler schlossen sich an, selbst die Teufel von Sankt Joseph. Der Name setzte sich durch. Wahrlich, wir sind eine Nation von Baumeistern: kurz danach benannte ein Junge namens Omprakash sich in Omega um, ein anderer nannte sich Ypsilon, und eine Zeit lang hatten wir auch Gamma, Lambda und Delta. Aber ich war der Erste und Dauerhafteste unter den Griechen vom Petit Sdminaire. Selbst mein Bruder, der Captain der Cricketmannschaft, Liebling der Stadt, fand Gefallen daran. In der folgenden Woche nahm er mich beiseite.
"Ich höre, du hast einen neuen Spitznamen?", fragte er."...
"Das führte zu Sätzen wie: »Denken Sie daran: Zeit ist Entfernung. Vergessen Sie nie, Ihre Uhr aufzuziehen« oder »Notfalls ermitteln Sie den Breitengrad mit den Fingern.« Ich hatte auch einmal eine Uhr gehabt, aber die lag jetzt auf dem Grund des Pazifiks. Sie war mit der Tsimtsum untergegangen. Aber ich konnte den Breiten- nicht vom Längengrad unterscheiden. Ich wusste eine ganze Menge über das Meer, aber eben nur über diejenigen, die darin schwammen, nicht über diejenigen obendrauf. Wind und Strömungen waren für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Die Sterne sagten mir nichts. Ich hätte nicht ein einziges Sternbild nennen können. Wir zu Hause hatten uns nur nach einem Stern gerichtet: der Sonne. Wir gingen früh schlafen und standen früh auf. Sicher, ich hatte im Laufe meines Lebens in manch klarer Nacht den Sternenhimmel bewundert, wo die Natur mit nur zwei Farben und in einfachster Technik grandiose Bilder malt, und wie jeder Mensch hatte ich ehrfürchtig hinaufgeschaut und gespürt, wie klein ich war; es war ein Schauspiel, an dem ich mich durchaus orientierte, doch orientierte im spirituellen, nicht im geographischen Sinne. Wie man den Nachthimmel als Straßenkarte nehmen konnte, davon wusste ich nichts. Die Sterne mochten noch so funkeln — wie sollten sie mir denn den Weg weisen, wenn sie selbst über den Himmel zogen?
Nach einer Weile gab ich es auf. Was ich erfuhr, würde mir ja doch nichts nützen. Ich hatte keinen Einfluss darauf, in welche Richtung ich fuhr — kein Steuer, keine Segel, kein Motor, ein paar Ruder, aber nicht die Muskeln dazu. Wozu sollte ich mir denn einen Kurs ausdenken, wenn ich ihn doch nicht halten konnte? Und selbst wenn ich es gekonnt hätte, wusste ich denn, welches die richtige Richtung war? Nach Westen, von wo ich gekommen war? Ostwärts nach Amerika? Nach Norden, Richtung Asien? Nach Süden, wo die großen Schifffahrtsrouten waren? Alle vier schienen gute und schlechte Richtungen zugleich.
Also ließ ich mich treiben. Wind und Meeresströmungen bestimmten, wohin ich fuhr. Wie für alle sterblichen Wesen war auch für mich Zeit und Entfernung eins — ich war unterwegs auf der Straße des Lebens —, und meine Finger hatten anderes zu tun als die Breitengrade zu ermitteln. Später fand ich heraus, dass ich mich immer auf einer schmalen Straße gehalten hatte, dem, wie die Wissenschaft sagt,
äquatorialen Gegenstrom."...
"Selbst Rama, der Menschlichste aller Avatare, war kein Feigling, auch wenn man ihn an seine Götternatur erinnern musste, als er in dem langen Kampf, in dem er seine Gemahlin Sita von Ravana, dem hinterhältigen Herrscher von Lanka, zurückeroberte, den Mut verlor. Er hätte sich von einem dürren Kreuz nicht aufhalten lassen. Und als es hart auf hart ging, wuchs er über seine armselige menschliche Gestalt hinaus, mit Waffen, die kein Mensch handhaben konnte, und einer Kraft, die kein Mensch hatte.
So soll ein Gott sein. Er soll Macht haben, er soll etwas vorstellen. Er soll die Bedrohten beschützen können und dem Bösen die Stirn bieten.
Dieser Sohn hingegen, der Hunger und Durst leidet, der müde und traurig wird, der kleinlaut ist, sich hänseln und herumschubsen lässt, der sich mit Anhängern umgibt, die von nichts eine Ahnung haben, unter Gegnern, die keine Achtung vor Ihm kennen — was ist denn das für ein Gott? Das ist ein Gott, der zu menschlich geworden ist. Sicher, es gibt Wunder, meist im medizinischen Bereich, ein paar für das hungernde Volk; wenn es hochkommt, beschwichtigt Er einen Sturm oder geht ein paar Schritte übers Wasser. Das ist Magie in jämmerlichem Maßstab, kaum besser als ein Kartentrick. Jeder Hindugott kann das hundertmal besser. Dieser Sohn, der ein Gott ist, hat die meiste Zeit Seine Gleichnisse erzählt. Er redet. Und er geht zu Fuß. Dieser Sohn, der ein Gott ist, ist ein Fußgängergott, und das in einem heißen Land — Er geht wie ein gewöhnlicher Mensch, so weit die Sandalen ihn tragen, und wenn er sich einmal ein Transportmittel gönnte, dann war es ein einfacher Esel. Dieser Sohn ist ein Gott, der drei Stunden lang starb, der stöhnte, seufzte, klagte. Und das soll ein Gott sein? Was hat er denn, woran man sich ein Beispiel nehmen kann?
Liebe, sagte Pater Martin.
Und nur ein einziges Mal war dieser Sohn erschienen, vor vielen Jahren und weit fort? Bei einem obskuren Stamm im fernen Westasien, in der hintersten Ecke eines längst verschwundenen Weltreichs? Und hängt schon am Kreuz, bevor Er noch ein einziges graues Haar auf dem Kopf hat? Hinterlässt keine Nachkommen, nur ein paar verstreute Legenden, sein Werk ein paar Zeichnungen im Sand? Moment mal. Das ist nicht einfach nur Brahma mit einem Minderwertigkeitskomplex. Das ist Brahma als Feigling. Brahma, der kleinlich und unfair ist. Das ist Brahma, der gar nicht wirklich sichtbar wird. Wenn Brahma nur einen einzigen Sohn hat, dann muss er doch wenigstens vielfältige Gestalt annehmen, so wie Krishna bei den Milchmädchen, oder etwa nicht? Was konnte denn einen derartigen Geiz Gottes rechtfertigen?
Liebe, sagte Pater Martin noch einmal.
Da bleibe ich doch lieber bei meinem Krishna, danke schön. Krishna, das ist der Inbegriff eines Gottes für mich. Deinen zerlumpten und geschwätzigen Sohn kannst du behalten.
So bin ich diesem aufrührerischen Rabbi aus längst vergangenen Zeiten zum ersten Mal begegnet: mit Unverstand und Wut.
Drei Tage hintereinander kam ich zu Pater Martin zum Tee. Jedes Mal stellte ich zum Rasseln von Tasse und Teller, zum Klimpern des Löffels meine Fragen.
Die Antwort war immer dieselbe.
Er machte mir zu schaffen, dieser Sohn. Von Tag zu Tag fand ich Ihn empörender, entdeckte ständig neue Schwächen an Ihm.
Er ist gehässig! Eines Morgens in Bethanien hat Gott Hunger. Gott will Sein Frühstück. Er kommt zu einem Feigenbaum. Aber es ist nicht die
richtige Jahreszeit, und an dem Baum hängen keine Früchte. Gott schmollt. »Nie wieder sollst du Früchte tragen«, knurrt der Sohn, und auf der Stelle verdorrt der Feigenbaum. So erzählt es Matthäus, und Markus bestätigt es.
Aber ich frage Sie, was kann denn der Feigenbaum dafür, dass keine Feigenzeit ist? Wer tut denn so etwas einem unschuldigen Feigenbaum an und lässt ihn verdorren?
Er beschäftigte mich. Tut es bis heute. Drei Tage lang habe ich nur an Ihn gedacht. Und je mehr ich über Ihn erfuhr, desto sicherer war ich, dass ich bei Ihm bleiben wollte.
Am letzten Tag, ein paar Stunden bevor wir Munnar verlassen wollten, stürmte ich den Hügel zur Linken hinauf. Heute kommt mir das ausgesprochen christlich vor. Das Christentum ist eine Religion, die es immer eilig hat. Man denke nur an die Welt, die in sieben Tagen erschaffen wird. Selbst wenn man es nicht wörtlich nimmt, kommt es einem doch arg gehetzt vor. Für jemanden, der in eine Religion geboren wurde, in der das Ringen um eine einzige Seele ein Stafettenlauf über viele Jahrhunderte sein kann, bei dem der Stab über unzählige Generationen weitergereicht wird, hat das Tempo des Christentums etwas Schwindelerregendes. Wenn der Hinduismus friedlich dahinfließt wie der Ganges, dann ist das Christentum Toronto in der Rushhour. Es ist eine Religion so stürmisch wie eine Schwalbe, so eilig wie eine Ambulanz. Es stampft nur einmal mit dem Fuß auf, es sagt mit einem Wort, was es zu sagen hat. In einem einzigen Augenblick ist man errettet oder verdammt. Die Wurzeln des Christentums reichen weit zurück, aber im Grunde existiert es immer nur im Hier und Jetzt.
Eilig lief ich den Hügel hinauf. Pater Martin war nicht ANWESEND — das Schildchen war auf die andere Seite geschoben —, aber Gott sei Dank war er doch da.
Noch atemlos vom Laufen keuchte ich: »Pater, ich will ein Christ sein.«
Er lächelte. »Das bist du schon, Piscine — in deinem Herzen. Wer Christus in seinem Herzen aufnimmt, der ist ein Christ. Hier in Munnar bist du Christus begegnet.«
Er tätschelte mir den Kopf. Eigentlich war es eher ein Schlag, es fühlte sich an wie WUMM-WUMM-WUMM.
Innerlich explodierte ich vor Freude.
»Wenn du wiederkommst, trinken wir wieder Tee, mein Sohn.«
»Ja, Pater.«
Es war ein gutes Lächeln, das er mir mit auf den Weg gab. Das Lächeln Christi.
Ich betrat die Kirche, ohne Furcht diesmal, denn nun war es ja auch mein Haus. Ich betete zum lebendigen Christus."
aus
Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger
Fischer Taschenbuch Verlag, 2009
-ISBN 978-3-596-15665-8
erkannt von: Jan Stutzki